Die Bildungskrise in der arabischen Welt - 30. März 2022

Die Bildungskrise in der arabischen Welt –

Rezension „Das verfallene Haus des Islam" von Ruud Koopmans -

Es steht schlecht um Bildung und Forschung in den Staaten der arabischen Welt. Die arabischen Länder bringen kaum Innovationen hervor, ihre Universitäten spielen international praktisch keine Rolle. Zu diesem Ergebnis kam der Bericht der Vereinten Nationen „über die menschliche Entwicklung in den arabischen Ländern".

Zwischen Morgen- und Abendland klafft eine immer größer werdende Bildungslücke. Verantwortlich für die desolate Lage von Bildung und Forschung sind religiöser Extremismus, die autoritären Staaten und vor allem der Mangel an Freiheit.

​​Schierer Mangel bestimmt vielerorts den Schulalltag in Ägypten, im Sudan, Marokko, dem Jemen und den meisten anderen arabischen Ländern. Die Defizite in Sachen Bildung und Erziehung in den arabischen Ländern sind groß, und sie werden wohl noch weiter zunehmen, sagte Nadir Fergani, federführender Autor der Studie „zur menschlichen Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten", die im vergangenen Herbst von der UN-Organisation für Entwicklung (United Nations Development Programme, UNDP) vorgelegt wurde. Damit stellt die Studie den 22 Ländern der Arabischen Liga ein verheerendes Zeugnis aus.

Diese Defizite betreffen sowohl die Quantität als auch die Qualität der Bildungsangebote. Die arabischen Länder sind weit zurück, was die Wissensproduktion angeht. Gemessen an Patenten, an Forschungsarbeiten, an Erfindungen, technischen Innovationen oder Entwicklungen hinken die arabischen Staaten den entwickelten Ländern in Amerika, Europa und Asien weit hinterher.

Anstatt eigenes Wissen zu schaffen, stützten sich die Staaten der arabischen Welt stärker als die meisten Staaten anderer Weltregionen lediglich darauf, das Wissen anderer für sich zu nutzen. Die eigene Kreativität und Schaffenskraft kommen dabei zu kurz.

Die Studie wirkte aber auch als Weckruf und führte zu einer selbstkritischen Debatte.

Während Syrien, Jemen und Libyen durch die Verheerungen der Kriege in ihrer Entwicklung um Jahrzehnte zurückgeworfen worden sind, haben die meisten anderen arabischen Länder auf dem Human-Development-Index der Vereinten Nationen zugelegt. Die reichen Golfstaaten wie die Emirate, Saudi-Arabien, Bahrain und Katar erreichen gar ein sehr hohes Niveau der menschlichen Entwicklung.

Insgesamt haben die arabischen Länder deutliche Fortschritte bei der Grundschulbildung und der Alphabetisierung gemacht. Gut 96% der Kinder besuchen heute eine Grundschule. 73% der Erwachsenen können lesen und schreiben. Auch nutzen 63% der Bürger heute das Internet, in den reichen Petro-Staaten am Golf gar nahezu 100%. Sehr positiv ist auch, dass sich der Rückstand von Mädchen und Frauen bei der Bildung reduziert hat, auch wenn es beim Übergang in den Arbeitsmarkt weiterhin erhebliche Probleme gibt.

Es mangelt indes nicht allein am Geld. Wer Wissen schaffen will, der muss auch für das politische und gesellschaftliche Klima sorgen, in dem Wissen gedeihen kann. Neues Wissen ist nicht allein für Industrie und Technik von Belang. Neues Wissen lässt sich nicht nur in Euro und Cent bemessen, es lässt sich nicht immer gewinnbringend vermarkten.

Aber neues Wissen führt dazu, dass Gesellschaften sich weiterentwickeln und wandeln. Doch genau darin besteht gegenwärtig eines der großen Hemmnisse der arabischen Länder, deren Regierungen mehrheitlich an den überkommenen politischen und gesellschaftlichen Strukturen festhalten wollen.


Trotz Fortschritt hohe Quote von Analphabeten

Beispiel Ägypten. Kein ägyptischer Präsident hat mehr Geld für Bildung ausgegeben als Husni Mubarak. Während seiner bald 23-jährigen Amtszeit hat sich der Bildungsetat Ägyptens vervielfacht. Stolz verweist die ägyptische Regierung auf ihre vermeintlichen Erfolge im Kampf gegen das Analphabetentum, das aber bei einer Rate von rund 50% noch lange nicht besiegt ist. Stolz ist die Regierung auch auf die vielen neuen Schulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen.

Wer aber setzt die Maßstäbe? In Ländern, wo der einfache Bürger keinerlei politische Mitsprache hat, wo die freie Meinungsäußerung oft als Verbrechen angesehen wird, sind jene das Maß aller Dinge, die das Sagen haben und die in keiner Weise gewillt sind, Macht und Kompetenzen abzugeben.

Es gibt keine Rechenschaftspflicht. Bildungsminister müssten Auskunft zu Bildungsfragen erteilen. Präsidenten, Premierminister – sie sollten befragt werden. Sie werden aber nicht befragt, weil die Leute gar nicht wissen, wo die Mängel liegen und wen sie fragen sollen. Und sie wissen es deswegen nicht, weil die Regierungen entscheiden, keine Informationen über die Qualität der Bildung zu sammeln geschweige denn zu veröffentlichen. Fehlplanung und schamlose Bereicherung sind in den arabischen Ländern nur deshalb möglich, weil es keine ausreichende Kontrolle durch Parlamente gibt, keine Transparenz, keine Beteiligung des Volkes an der Macht und den Entscheidungsprozessen.


Die Universitäten sind weit abgeschlagen

Wirklich gut steht es trotzdem nicht um die Lage der Bildung und Forschung. Die Fortschritte bei der Schulbildung wirken sich kaum auf die Qualität der Universitäten aus. Zwar steht mit der 972 gegründeten Al-Azhar eine der ältesten Universitäten der Welt in Kairo. Heute sind die Universitäten des arabischen Raums international aber kaum konkurrenzfähig. An privaten Einrichtungen wie der American University in Beirut ist das Niveau zwar höher als an den staatlichen, doch kann sich nur die Mittel- und Oberschicht deren Besuch leisten.

Dieses Problem besteht in den meisten arabischen Ländern, nicht nur in Ägypten. Neben den staatlichen Institutionen haben sich längst private Schulen und Universitäten etabliert, deren Bildungsangebote von deutlich besserer Qualität sind.

Im Ergebnis führt das zu polarisierten Gesellschaften. Wer einer wohlhabenden Familie entstammt, wird seine Kinder auf die besten Schulen schicken – in der Regel also auf Privatschulen. Das wiederum eröffnet ihnen die Möglichkeit, die besten Universitäten der Welt zu besuchen. Wer der Mittel- oder der Unterschicht entstammt, wird seine Kinder aufgrund fehlender Geldmittel den staatlichen Schulen und Universitäten anvertrauen, die eine schlechtere Ausbildung bieten.

Aufgrund ihrer autoritären Strukturen arbeiten die herrschenden Regime für die Interessen kleiner Cliquen. Sie kümmern sich nicht um die Interessen der Bevölkerungsmehrheit. Sie stellen nicht genügend Mittel für Forschung, Entwicklung und Wissensschöpfung zur Verfügung. Als Richtschnur für ihre Entscheidungen dient ihnen das Prinzip: Nützt es mir und meiner Klientel oder nicht. Wenn du eine irrationale Regierung hast, die ihre Entscheidungen an den Interessen einer kleinen Elite ausrichtet, dann kannst du keine Bevölkerung mit einem hohen Bildungsniveau haben.

Wohl aber goldene Klobrillen wie einst Saddam Hussein, Satellitenstädte für die Reichen und Schönen wie in Ägypten, Luxuskarossen für die Herrschenden wie im Sudan. Die politischen Eliten in den arabischen Ländern kommen ihrer Verantwortung gegenüber jenen nicht nach, die sie vertreten, repräsentieren und regieren sollen.

Ein Grund für die Misere ist das Festhalten an überholten Lehrmethoden. An den staatlichen Schulen der arabischen Länder wird konsequent Frontalunterricht erteilt: Der Lehrer präsentiert und erklärt, er formuliert Fragen und Antworten, er versorgt die Schüler mit dem, was sie lernen sollen. Wer nicht mitkommt, der bleibt auf der Strecke. Klassenstärken mit 50, 60, 70 oder mehr Schülern sind die Regel, nicht die Ausnahme.

Die Schüler agieren nicht, sie reagieren. Sie übernehmen das von den Lehrern angebotene Wissen eins zu eins. Und wer als Schüler nicht lernt, selbstständig zu arbeiten, der wird diese Kunst später an der Universität oder im Beruf kaum beherrschen. Kreative Fächer wie Musik und Kunst fristen ein Nischendasein.

Ein anderer Grund für die Krise der Bildung ist die Knappheit der Mittel. Selbst die wohlhabenden Golfstaaten geben nur wenig für Forschung und Entwicklung aus. Außer in den Emiraten liegen die Ausgaben in allen arabischen Ländern unter 1% des Bruttoinlandprodukts – in Deutschland und der Schweiz sind es über 3%. Entsprechend schlecht sind die Arbeitsbedingungen für Forscher. Hunderttausende wandern daher jedes Jahr in den Westen ab.

Zwar bringen die Universitäten durchaus fähige Ingenieure, Ärztinnen und Programmierer hervor, doch innovative Forschung ist selten. Leuchtturmprojekte wie das Raumfahrtprogramm der Emirate, mit dem Abu Dhabi einen eigenen Hightech-Sektor aufbauen will, basieren auf ausländischer Expertise. Bis heute ist der 1999 prämierte ägyptische Chemiker Ahmed Zewail der einzige Araber, der einen Nobelpreis in Physik, Chemie, Medizin oder Wirtschaft erhalten hat. Ganz zweifellos gibt es in der arabischen Welt jede Menge kluge Köpfe. Aber das Talent und die Intelligenz von Wissenschaftlern und Forschern kommen ihren Heimatländern nur dann zugute, wenn das entsprechende Umfeld besteht.

Auch bei den technischen Innovationen liegen die arabischen Staaten zurück. 2020 hat Ägypten gerade einmal 5655 Patente registriert – weniger als das kleine Albanien. Wie gering die Innovationskraft ist, zeigt sich auch im regionalen Vergleich: So hat die Türkei zur selben Zeit knapp 89 000 Patente angemeldet, Iran fast 39 000. Die beiden muslimischen Länder schneiden auch sonst bei Bildung, Forschung und Entwicklung deutlich besser ab als ihre arabischen Nachbarn.


Abgeschnitten vom Wissen der Welt

Schon der Uno-Bericht von 2003 hatte kritisch hervorgehoben, dass in der arabischen Welt nur wenige Bücher veröffentlicht und noch weniger Werke aus anderen Sprachen übersetzt werden. Trotz einigen Initiativen zur Förderung der Produktion und der Verbreitung von Wissen hat sich daran nichts grundlegend geändert. In Ägypten etwa, dass für die arabische Literatur und Kultur traditionell eine zentrale Bedeutung hat, wird heute nur ein Bruchteil der Anzahl an Büchern veröffentlicht verglichen mit einem europäischen Land ähnlicher Größe.

Dabei ist das Interesse an Büchern in Teilen der Bevölkerung durchaus groß, wie die Millionen von Besuchern auf Buchmessen in Kairo, Sharjah oder Algier jedes Jahr zeigen. Eine Studie hat 2017 auch die Behauptung widerlegt, die Araber läsen nur sechs Minuten im Jahr. Tatsächlich sind es 35 Stunden. Im internationalen Vergleich ist dies allerdings immer noch wenig. Die wenigsten arabischen Bücher erreichen denn auch Auflagen über 3000 Stück.

Lange vorbei ist die Zeit, als es in Beirut, Kairo und Bagdad eine florierende Zeitungs- und Verlagslandschaft gab. Damals hieß es: „Kairo schreibt, Beirut publiziert und Bagdad liest." Religiöser Extremismus, staatliche Zensur sowie Bürgerkriege und Wirtschaftskrisen haben der Literatur seitdem zugesetzt. Hinzu kommt die ungelöste Schwierigkeit, die Kluft zwischen lokalen Dialekten und der arabischen Schriftsprache zu überbrücken.

Nur wenige Bücher werden ins Arabische übersetzt. Damit fehlt den Arabern ein wichtiger Zugang zum Wissen der Welt.

Hatten die Araber einst eine essenzielle Rolle gespielt, um die Werke der klassischen Antike zu übersetzen und für die Nachwelt zu sichern, werden heute kaum noch Bücher übersetzt. Umgekehrt werden auch aus dem Arabischen nur wenige literarische und noch weniger wissenschaftliche Werke in andere Sprachen übertragen. Dies hat gravierende Folgen für den Zugang der Araber zu Wissen und führt dazu, dass sie von wichtigen Debatten ausgeschlossen sind.

Auch die Lage der Medien ist düster. Echte Pressefreiheit existiert in keinem arabischen Land. Mit Ausnahme von Tunesien, Libanon und Katar sind alle Länder auf der Karte zur Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen rot oder schwarz eingefärbt. Durch die Corona-Pandemie und den Wirtschaftskollaps in Libanon hat sich die Lage noch verschärft. In Ägypten, das im Arabischen Frühling eine relative Liberalisierung erlebt hatte, sind unter Präsident Abdelfatah al-Sisi fast alle kritischen Stimmen wieder zum Schweigen gebracht worden.


Aus Gehorsam erwächst keine Kreativität

Dies bringt uns zum Grundproblem der arabischen Welt: dem Autoritarismus. Nichts erklärt den Mangel an Innovationen so sehr wie das Fehlen von Freiheit. Die autoritären Herrscher haben kein Interesse daran, selbständiges, kritisches Denken und autonomes Handeln zu fördern. Statt aufgeklärte, mündige Bürger, die Autoritäten und ihre Entscheidungen hinterfragen, bevorzugen sie gehorsame Untertanen. Eine unabhängige Zivilgesellschaft ist ihnen suspekt, kritische Forscher und Journalisten sehen sie als Bedrohung.

Entsprechend wird schon an den Schulen Konformismus gefördert und Kritik bestraft. Die Schüler werden nur selten zum Diskutieren und Experimentieren ermutigt – dabei ist dies für die Entwicklung neuer Ideen entscheidend. Die Universitäten, die auch in der arabischen Welt oft Brutstätten neuer politischer Bewegungen und Keimzellen von Revolutionen waren, unterliegen strikter staatlicher Kontrolle. Echte akademische Autonomie existiert kaum.

Der Autoritarismus wirkt tief in die Gesellschaften hinein und bestimmt die Erziehung in den Familien und das persönliche Verhalten. Wenn öffentliche Meinungsäußerungen ins Gefängnis führen können, ist es nur rational, dass Eltern ihre Kinder zum Respekt vor Autoritäten erziehen. Wenn in der Karriere Loyalität mehr zählt als Leistung und die Beziehung zum Vorgesetzten über die Beförderung entscheidet, überlegt man es sich zweimal, in Bildung zu investieren.

Zum Autoritarismus kommt in vielen arabischen Ländern eine reaktionäre, rigide Interpretation des Islam hinzu. Freie Debatten haben da keinen Platz, und der kreativen Entfaltung sind durch eine Vielzahl moralischer Tabus enge Grenzen gesetzt. Zwar haben islamistische Bewegungen wie die Muslimbruderschaft in den letzten Jahren deutlich an Einfluss verloren, dafür propagieren Staaten wie Ägypten heute eine kaum weniger konservative Lesart des Islam.


Reformen bleiben aus

Wer die arabische Bevölkerung aus der Bildungskatastrophe und der chronischen technologischen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Rückständigkeit führen will, der muss mehr tun, als nur ein paar neue Schulen zu bauen.

Nötig sind umfassende soziale, politische, wirtschaftliche und kulturelle Reformen in allen arabischen Ländern. Und genau darin, gibt der ägyptische Publizist Mohamed Sid Ahmed zu bedenken, besteht das Hauptproblem aller arabischen Länder: die Ablehnung grundlegender Reformen, die die Herrschenden möglicherweise von den Fleischtöpfen der Macht entfernen würden. Ausufernde Korruption und maßloser Nepotismus in den politischen Körperschaften verhindern jede Reform.


Nassers Visionen

Kairo, Manshiet Nasser, ist ein informeller Stadtteil der ägyptischen Hauptstadt Kairo am Fuße des Muqattam-Hügels. Ein Großteil der Wohnungen und Geschäfte in seinem Gebiet entstand ohne behördliche Genehmigung. Der Stadtteil hat etwa 600.000 Einwohner und gilt damit als größtes informelles Viertel Kairos.

Es ist eng und laut, die Luft ist schlecht, die Straßen sind größtenteils unbefestigt. Knapp zwei Drittel der bald 20 Mio. Einwohner des Molochs Kairo leben in solchen Gebieten, die alle eines gemeinsam haben: das Fehlen jeglicher staatlichen oder kommunalen Planung. Es mangelt an Schulen, Krankenhäusern, Frisch- und Abwassersystemen, Müllbeseitigung – kurz: an städtischer Infrastruktur.

Manshiet Nasser entstand in den sechziger Jahren. Landflüchtlinge folgten damals den Versprechungen Gamal Abdel Nassers. Sie glaubten an die von Nasser versprochene lichte Zukunft, sie gaben ihre Scholle in Oberägypten oder im Nildelta auf, um in der Hauptstadt ihr Glück zu machen.

Aber Nassers Visionen entpuppten sich als Luftschlösser. Der panarabische Sozialismus führte die Menschen in die Irre, er gaukelte nicht vorhandene Größe, Macht und Einfluss vor.

Nasser startete eine Bildungsoffensive, er öffnete die Universitäten für die breite Bevölkerung und garantierte jedem Hochschulabsolventen einen sicheren Arbeitsplatz im Staatsdienst. Nie gab es in Ägypten mehr Studenten als heute. Und nie, sagen Kritiker, war das Ausbildungsniveau derart bescheiden.


Nicht konkurrenzfähig auf dem Weltmarkt

Die Bildungs- und Ausbildungsmisere der arabischen Länder schlägt sich längst negativ auf dem heimischen Arbeitsmarkt und dem Weltmarkt nieder. Ägyptische Produkte etwa verlieren stetig an Wettbewerbsfähigkeit. Das 106-Mio.-Volk mit einem BIP von ca. 247 Mrd. leidet schon seit Jahren an einem Import-Überschuss.

Der Mangel an ausgebildeten Fachkräften erklärt, warum die Produktivität in den arabischen Ländern nach wie vor so niedrig ist und warum die Länder mit der weltweiten Konkurrenz nicht mithalten können, meint der Sozialwissenschaftler Saad Eddin Ibrahim. „Du brauchst Bildung, um deine Arbeiter zu qualifizieren, damit die Produktivität gesteigert wird, um auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu sein."

Alle islamische Staaten mit ihren ca. 2 Mrd. Menschen erreichen zusammen ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf im Jahr 2020, das oft als ein Maß für den Wohlstand gesehen wird, von 5.800$ und in der Euro-Zone 37.700$ pro Kopf.

Arabische Politiker und Intellektuelle verweisen in Sachen technologische und wirtschaftliche Rückständigkeit gerne auf die Vergangenheit, auf die Folgen des Kolonialismus, der Ausbeutung durch Osmanen und Europäer. Für Kritiker ist diese Art von Ursachenforschung unzureichend und ein Beleg dafür, dass es an ehrlicher Selbstkritik mangelt.

Der Schein, sagt der Publizist Mohamed Sid Ahmed, sei stets wichtiger als das Sein. „Wir kümmern uns nicht um das Erreichen der Ergebnisse. Wir sind mehr damit beschäftigt, die Aufdeckung der Tatsache zu verhindern, dass wir die Ergebnisse nicht erreicht haben, als zu versuchen, die Ergebnisse tatsächlich zu erreichen. Das ist ein Charakteristikum unserer Politik: etwas zu verkaufen und ein bestimmtes Image aufrecht zu erhalten anstatt dafür zu sorgen, dass dieses Bild der Realität entspricht."

„Suchet Wissen"

Den arabischen Staaten stehen gewaltige Herausforderungen ins Haus. Die immer größer werdende Bildungslücke zu den entwickelten Industriestaaten stellt eine gewaltige Zeitbombe dar. In Ländern wie Ägypten, dem Jemen, Saudi-Arabien oder Algerien ist die Bevölkerung in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch gewachsen, allein in Saudi-Arabien von 3,2 Mio. im Jahre 1950 auf mittlerweile über 36 Mio. Drei Viertel der Einwohner sind jünger als 25.

Die größten Engpässe in Schul- und Berufsausbildung stehen dem wahhabitischen Königreich erst noch bevor. Die Regierenden in den arabischen Ländern haben sich in den vergangenen Jahrzehnten als unfähig, unwillig oder machtlos erwiesen, die Voraussetzungen zur Entwicklung ihrer Völker zu schaffen.

Entwickelte Länder werden heute nicht mehr an ihrem Wohlstand gemessen, sondern eher daran, welchen Beitrag sie bei der Erzeugung neuen Wissens leisten, wie sie das Wissen der Menschheit bereichern. Und so zementiert die Wissenslücke die Rückständigkeit. Dabei sind dem Versuch, den Abstand zum industrialisierten Westen durch Wissenstransfer zu begegnen, kommerzielle Grenzen durch westliche Wirtschaftsinteressen gesetzt.

Die Zeichen stehen in weiten Teilen der arabischen Welt auf Rückbesinnung auf überkommene Traditionen. Leider, so Nadir Fergani, werden vor allem repressive Gepflogenheiten wieder belebt, nicht aber das für den einstigen kulturellen und politischen Aufstieg der islamischen Welt wichtige Streben nach Wissen. „Suchet Wissen", hat der Prophet Mohammed seinen Anhängern einst aufgetragen, „und sei es in China." China galt den Arabern im siebten Jahrhundert als das Ende der Welt.

Die Folge von Autoritarismus und religiösem Rigorismus ist eine Kultur, die wenig Raum lässt für die freie Entfaltung des Individuums. Viel kreatives Potenzial und viele innovative Ideen bleiben ungenutzt. Solange die arabischen Staaten ihren klügsten Köpfen nicht die Chance zur Entfaltung geben, bleiben sie unter ihren Möglichkeiten. Für die künftige Entwicklung der arabischen Welt ist dies höchst bedenklich. In einer Zeit, in der Wissen eine zentrale Rolle spielt, braucht es eine Kultur des Lernens. Die Grundlage dafür ist Freiheit.

Rezension (Buchbesprechung) von: Wahied Wahdat-Hagh

Das verfallene Haus des Islam - Die religiösen Ursachen von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt - München, C. H. Beck 2020

Der Sozialwissenschaftler Ruud Koopmans beginnt sein Buch mit der Feststellung, dass die islamische Welt in ihrer frühen Blütezeit einen Vorsprung vor dem Westen hatte und schließt daran die Frage an, wie es dazu kommen konnte, dass die so erfolgreiche islamische Welt in eine historische Krise geriet. Seine Deutung geht in die richtige Richtung, wenn er konstatiert, dass „Ideologien und soziale Institutionen, die in einem bestimmten weltgeschichtlichen Kontext effizient und vielleicht fortschrittlich waren, dies nur bleiben können, wenn sie auch die Fähigkeit haben, sich an veränderte Bedingungen anzupassen." (17) Im Vergleich mit der Sowjetunion, die eine Entwicklungsblockade nach den 1950er-Jahren erlebt hat, sei der zeitgenössische Islam der „Trabant, oder respektvoller gesagt, der Sputnik unter den Weltreligionen." (18)

Der Autor zeigt, dass der religiöse Fundamentalismus der Hauptgrund dafür sei, dass die „islamische Welt in den letzten fünfzig Jahren an fast allen Fronten stagniert hat oder in einigen Fällen sogar in die Barbarei zurückgefallen ist." (22) Koopmans stellt einige Studien vor, die das fundamentalistische Denken unter Muslimen und Christen untersuchen. Besonders interessant erscheinen die repräsentativen Umfragen des World Values Survey. Sie legen die Erkenntnis nahe, dass die Unterstützung religiöser Gewalt „unter Muslimen am größten und innerhalb der einzelnen Religionen unter den fundamentalistischen Gläubigen deutlich größer" (42) ist. Anhand der Daten von Freedom House weist der Autor nach, dass seit 1972 zwar die Anzahl der Demokratien weltweit gestiegen sind, aber „an einem Teil der Welt ist die Welle der Demokratisierung, die in den letzten fünfzig Jahren über die Welt schwappte, völlig vorbeigegangen." (62) Im Jahr 2018 gab es nur zwei demokratische Länder mit einer islamischen Bevölkerungsmehrheit: Senegal und Tunesien. Diese beiden islamischen Demokratien haben die längste Geschichte der Kolonialisierung hinter sich, und, so die These, es existieren keine Anzeichen dafür, dass sich der westliche Kolonialismus negativ auf die Demokratisierung ausgewirkt habe. „Im Gegenteil, je länger der westliche Kolonialismus gedauert hat, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Land heute ganz oder, wie Indonesien und Malaysia, teilweise demokratisch ist." (77) Islamische Länder seien sehr wenig vom westlichen Kolonialismus beeinflusst worden. Insbesondere werde die Zeit der osmanischen Herrschaft meist nicht erwähnt, dabei bestreitet Koopmans nicht, dass der Kolonialismus nach heutigen Maßstäben verwerflich war.

Der Autor relativiert die These von der Islamophobie und korrigiert, dass in keinem Teil der Welt die „religiöse Diskriminierung religiöser Minderheiten und Gewalt gegen sie so hart und so weit verbreitet sind wie in der islamischen Welt." (91) Die Diskriminierung richte sich auch gegen liberale Muslime.

Darüber hinaus sind Frauen Opfer religiös begründeter Unterdrückung und Koopmans spricht zu Recht von einer islamischen Apartheid gegenüber Frauen. Zwar sei allein die Tatsache, dass die Aussage einer Frau im Schariarecht überhaupt zähle, sie überhaupt ein Erbe bekomme und dass ein Mann „nur" vier Frauen haben dürfe, für das Mekka und Medina des siebten Jahrhunderts „vielleicht nicht so schlecht" (101) gewesen. Für die heutigen Verhältnisse jedoch lasse sich die Diskriminierung der Frauen in den meisten islamischen Staaten mit der Behandlung der Schwarzen im südafrikanischen Apartheidsregime vergleichen Die Frauen müssten ihren Körper verhüllen, „anscheinend ist es nicht Aufgabe der Männer, ihre Triebe zu kontrollieren." (102) Der Wissenschaftler kritisiert auch das Verhalten der westlichen Regierungen und Intellektuellen. Während Südafrika tatsächlich boykottiert wurde, werde beispielsweise der Iran oder Pakistan nicht geächtet. Lieber werde Israel angegriffen. Progressive westliche Wissenschaftler würden im Iran Urlaub machen, wo Homosexuelle aufgehängt würden. Wer „dieses Unrecht kritisiert, kann damit rechnen, als Islamophob bezeichnet zu werden." (103) Iran gehöre nach dem Social Institutions and Gender Index (SIGI) in der dritten Position zu den vier Ländern, in denen die Position der Frauen am schlechtesten sei. Koopmans schreibt: „Je strenger die Bevölkerung auf die Einhaltung der Scharia beharrt und je weniger Trennung von Staat und Religion es gibt, desto schlechter ist es um die Rechte von Frauen und Minderheiten bestellt." (108)

Koopmans setzt sich zudem mit den Analysen von Samuel Huntington im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten auseinander. Wie er anhand von empirischen Materialien aufzeigt, ist seit den 1980er-Jahren die Teilnahme von islamischen Staaten und radikalislamischen Gruppen an bewaffneten Kämpfen gestiegen. Vor diesem Hintergrund habe Huntington die umstrittene These von den „blutigen Grenzen des Islam" (129) vertreten. Diese These sei für die Situation um den Zeitraum der Mitte der Neunzigerjahre durchaus „etwas überzogen" (130), als Prognose habe sie gleichwohl den Finger auf die Wunde gelegt. Innerhalb der islamischen Welt gebe es mindestens so viele Konflikte wie zwischen dem Islam und anderen Kulturkreisen: „Seit 2005 ist die terroristische Gewalt in der islamischen Welt eskaliert." (135) Die Zahl der Gewaltakte und Opfer sei indessen in islamischen Ländern mehr als doppelt so hoch wie im Rest der Welt zusammen. Trotz der überwältigenden Belege, dass islamische Extremisten für die meisten terroristischen Gewaltakte verantwortlich seien, würden Politiker, Journalisten und Kommentatoren immer wieder behaupten, dass Terrorismus „nichts mit dem Islam zu tun" (138) habe, kritisiert der Autor.

Kernländer der islamischen Welt wie der Iran waren nie westliche Kolonien, und gerade der Iran sei neben Saudi-Arabien „das Epizentrum des islamischen Fundamentalismus und die Wiege vieler terroristischer Gruppen" (149).

Oft führe die Kombination aus „mangelnden wirtschaftlichen Perspektiven und sexueller Kombination" (187) dazu, dass sich viele junge Männer in islamischen Ländern den extremistischen Bewegungen annähern.

Im Hinblick auf die Geschichte der Migration aus islamischen Ländern stellt Koopmans fest: „In den Problemen der muslimischen Integration spiegelt sich die Krise der islamischen Welt im Kleinformat." (190) Er benennt dabei den virulenten Antisemitismus, die Homophobie und die Unterdrückung von Frauen. Zwar spiele Diskriminierung eine Rolle, aber Analysen verschiedener Studien würden zeigen, dass „fehlende Sprachkenntnisse, auf das Herkunftsland gerichtete Mediennutzung, mangelnde interethnische soziale Kontakte und konservative Auffassungen über Geschlechterrollen die nachteilige Position von Muslimen auf dem Arbeitsmarkt und die hohe Arbeitslosigkeit fast vollständig erklären können" (207).

Ausdrücklich will der Autor Missverständnisse vermeiden und wiederholt, dass die kritischen Analysen nicht bedeuten, „dass Migranten aus islamischen Ländern im Allgemeinen gewalttätige Judenhasser, Schwulenfeinde und Frauenschänder" (222) seien. Natürlich seien die meisten von ihnen das zum Glück nicht. Koopmans distanziert sich von Thilo Sarrazin und Geert Wilders. Radikale Islamkritiker seien „ebenso fanatische Koranexegeten geworden wie die Fundamentalisten." (226) Doch es sei kontraproduktiv, wenn behauptet wird, dass Fundamentalismus, Unterdrückung und Gewalt mit dem Islam nichts zu tun haben. Insgesamt positioniert Koopmans sich als einen Universalisten, für den es „keine moralisch vertretbare Option sei" (125), zu akzeptieren, dass Muslime nun mal anders über Geschlechterstellung oder Religionsfreiheit denken.

Koopmans geht davon aus, dass die Lösung der Konflikte in der Mitte der islamischen Gemeinschaft selbst liegt, in Form einer weit verbreiteten intoleranten Glaubensauffassung, die mit Hass und Gewalt gegen Andersgläubige einhergeht (243). In diesem Zusammenhang kritisiert er auch die wichtigsten deutschen Islamverbände, deren Arbeit nicht zu einer liberalen und weltoffenen Demokratie passten. Die eigentliche Frage sei, welcher Islam zu einer liberalen Demokratie gehört.

Auf jeden Fall verdienten die „totalitären, zutiefst menschenfeindlichen Ideologien" (249) nicht den Schutz der Glaubensfreiheit: „Muslime, die für einen anderen, modernen und liberalen Islam eintreten, müssen sich massenhaft gegen die globale Intoleranz und Gewalt im Namen ihres Glaubens erheben." (254)

Das Buch ist nachdenklich und spannend geschrieben, es liefert viel positiven Diskussionsstoff.

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