Das Ende der Murmeltiertage nach 16 Jahren - 15. Mai 2021

Der lange Abgang von Frau Merkel -
Das Versagen von Frau Merkels Regierung in der Pandemie -
Die Revolution der Gesinnungsethiker frisst ihre Kinder -

Zitat Peter Thiel (Facebook-Investor und Mitgründer von PayPal): „Merkel repräsentiert seit 16 Jahren den ewigen Murmeltiertag. Jeder Tag sieht aus wie der vorherige. Nichts ändert sich. Das hat für schockierend lange Zeit funktioniert. Aber nun hat sich dieses System erschöpft."

In der schwersten Krise ihrer Geschichte hat die Bundesrepublik eine Kanzlerin auf Abruf. Nach 16 Jahren tritt Frau Merkel im Oktober ab. Hat sie den Job als Führungskraft einer wichtigen Industrienation gut gemacht?

Es war eine erstaunliche Antwort, die viele deutsche Führungskräfte gaben, als die Boston Consulting Group (BCG) sie vor einigen Wochen in einer repräsentativen Umfrage nach ihren Vorbildern befragte. Häufigste Nennung: Angela Merkel. Wer versucht, diese Wahl aus führungstheoretischer Perspektive zu begründen, wird zu einem anderen Fazit kommen.

1.        Führung gibt es, weil es Konflikte gibt und diese entschieden werden müssen. Führung hat ihren prinzipiellen Aufgabenbereich daher jenseits der Routine, dann zeigt sich ihre Qualität, nicht beim gewohnten Ablauf. Zur Beurteilung der Führungskraft Merkel lohnt es sich daher, drei Großkonflikte aus ihrer Amtszeit in den Blick zu nehmen: Nach dem Fallout in Fukushima radierte Merkel die deutsche Atomindustrie binnen weniger Tage aus. Und die deutsche Rechtsstaatlichkeit gleich mit. Auf die Migrationskrise reagierte sie moralisierend ohne Rücksicht auf die Belastbarkeit der Sozialsysteme.

Aus der Annahme, es sei unsere Pflicht,
alle Migranten aufzunehmen, machte sie eine Tatsache. Es war ein Glaubensbekenntnis und damit der Beleg, dass der säkulare Staat als Fundament der westlichen Gesellschaften eine Illusion ist. Wenig verwunderlich, dass die Staatsgläubigkeit unter Merkel in historisch beispielloser Weise angeschwollen ist. Dann kam Corona. Erst im Rückblick wird wahrscheinlich das Staatsversagen sichtbar werden, für das nicht nur Sterbende, Einsame und Kranke einzustehen haben, sondern vor allem unsere Kinder. Freiheit schrumpfte zu einer vom Staat gewährten Freiheit. Nimmt man diese drei Großereignisse zum Maßstab, war Angela Merkel eine Fehlbesetzung.

2.        Führungskräfte bekommen ihr Geld für die Sicherung der Zukunftsfähigkeit. Die Minimalanforderung ist es, die eigene Nachfolge zu regeln. Angela Merkel hatte dazu 16 Jahre Zeit. 16 Jahre, in denen sie alle Konkurrenten weggebissen hat. Für ihre eigene Machtsicherung war das hilfreich, kam so doch nie der Gedanke auf, jemand anders könne die Sache möglicherweise besser als sie selbst. Der selbstzerstörerische Prozess um die Kanzlerkandidatur hat nun aber gezeigt, welch verheerende Folgen das hat.

3.        Gute Führung muss sich überflüssig machen und eine Institution hinterlassen, die in einem höheren Maß zur Selbstführung in der Lage ist, als sie es beim Dienstantritt war. Hat Merkel das geschafft? Nein, in Deutschland wuchert der Staat. Mehr Menschen sind von Versorgungsleistungen abhängig als je zuvor. Unter ihrer Führung wurden Tausende Stellen in Ministerien geschaffen, ohne dass sich die Aufgaben grundlegend verändert haben.

4.        Management ist Handwerk, Führung ist Haltung. Haltung konnte man bei Merkel nie erkennen, da war nur Handwerk. Das rächt sich jetzt, wo im Wahlkampf Inhalte gebraucht werden - und keine da sind.

Die Amtszeit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel ist reich an unerwarteten Wendungen, dramatischen Ereignissen und umstrittenen Entscheiden. Eines gab es in etwas mehr als fünfzehn Jahren Kanzlerschaft noch nicht: dass Merkel einen Beschluss öffentlich zurücknahm und die Bürger um Verzeihung bat. Am späten Mittwochvormittag vor Ostern tat sie dies: Die Ansetzung einer sogenannten Osterruhe zur Bekämpfung der Corona-Pandemie sei ein Fehler gewesen, sagte Merkel, und zwar „einzig und allein" ihr Fehler, denn „am Ende", so die Kanzlerin, „trage ich qua Amt für alles die letzte Verantwortung".

Einen Fehler einzugestehen, mag von Größe zeugen, doch kann Merkels Geste nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kanzlerin eine Getriebene der Ereignisse und der öffentlichen Meinung war: Es gärte in Deutschland, nachdem Merkel und die Ministerpräsidenten der sechzehn Bundesländer in der Nacht von Montag auf Dienstag vor Ostern beschlossen hatten, das öffentliche Leben zwischen Gründonnerstag und Ostermontag nahezu vollständig zum Erliegen zu bringen.

Angst vor dem Verlust des Mandats

Auch unter Merkels Parteikollegen regte sich schon bald Unmut. Im Bundestag schienen einige Christdemokraten und Christlichsoziale zu befürchten, bei der Wahl im September ihr Mandat zu verlieren, zumal die Union bereits vor dem Entscheid vom Dienstagmorgen aufgrund diverser Skandale in den Umfragen abgestürzt war. In einer Fraktionssitzung klagten selbst ausgesprochene Merkel-Loyalisten, den Bürgern in ihren Wahlkreisen nicht mehr erklären zu können, was die Konferenz der deutschen Regierungschefs eben entschieden habe.

Auch manchen Ministerpräsidenten schien die „Osterruhe", die sie eben noch selbst mitgetragen hatten, schon wenige Stunden später nicht mehr geheuer zu sein: Am Dienstag erklärten einige von ihnen, unter ihnen die beiden Unions-Politiker Markus Söder aus Bayern und Reiner Haseloff aus Sachsen-Anhalt, nach Ostern in ausgewählten Regionen mit Lockerungen experimentieren zu wollen. Es wirkte, als wollten sie dem wachsenden Missbehagen in der Bevölkerung entgegenwirken, indem sie den Bürgern zumindest ein wenig Hoffnung machten.

Von „klarer Linie" konnte keine Rede sein

Was bleibt, ist der Eindruck einer politischen Führung, die durch schlechtes Regierungshandwerk für Chaos und Verunsicherung sorgt: Dass offenbar keiner der Zugeschalteten erkannte, dass die Idee der „Osterruhe" schlicht nicht praktikabel war, verwundert selbst dann, wenn man der Kanzlerin und den Ministerpräsidenten zubilligt, den Entscheid im Zustand der Übermüdung getroffen zu haben. Von der „klaren Linie", die Söder nach den 15-stündigen Beratungen sehen wollte, konnte nun keine Rede mehr sein. Eher dürften manche Bürger seinem Amtskollegen Volker Bouffier zustimmen: „Wir sind jetzt die Deppen", soll der hessische Christdemokrat geklagt haben, als die Runde am Mittwoch erneut zusammentrat, um die „Osterruhe" wieder einzukassieren.

Schließlich bemühten sich einige CDU-Ministerpräsidenten, weiteren Schaden von ihrer Kanzlerin abzuwenden: Alle Gipfelteilnehmer hätten die „Osterruhe" mitgetragen, betonte der nordrhein-westfälische Regierungschef und CDU-Vorsitzende Armin Laschet. Derartige Wortmeldungen können nicht verschleiern, dass Angela Merkel, die vielen einmal als Argument dafür galt, CDU oder CSU zu wählen, für die Unionsparteien längst zu einer Belastung im Wahlkampf geworden ist.

Sie ist nun, was die Amerikaner eine „lame duck" nennen, eine Anführerin auf Abruf. So muss sich die Bundesrepublik in der wahrscheinlich schwersten Krise ihrer Geschichte noch auf ein halbes Jahr Interregnum einstellen.

Das Versagen von Frau Merkels Regierung in der Pandemie

Wie haben die Politiker, Berater und Virologen im Rahmen dieser Pandemie gedacht und gehandelt? Was lief gut und was lief schief? Diese Bestandsaufnahme haben Georg Mascolo und Katja Gloger unternommen. Mascolo war einst Chefredakteur des „Spiegels" und ist heute Leiter des Rechercheverbunds von NDR, WDR und „Süddeutscher Zeitung". Gloger war politische Korrespondentin für den „STERN" in Washington und Moskau.

Gemeinsam haben sie nun ein Buch geschrieben: „Ausbruch: Innenansichten einer Pandemie – Die Corona-Protokolle". Es ist die bisher detailreichste und politisch präziseste Schilderung dessen, was hinter den Kulissen von Corona-Kabinett, Partei-Vorstand und TV-Talkshow passierte. Die Geschichte der Pandemie als Geschichte von Pannen, Fehleinschätzungen und schwerem Missmanagement. Es geht um die Irrtümer der Virologen, die Zauderhaftigkeit der Kanzlerin und die fehlende Koordination in Europa. Prädikat: schockierend. Katja Gloger noch positiv: „Innerhalb von zehn Monaten haben es Wissenschaftler zustande gebracht, einen Impfstoff zu entwickeln, der uns helfen wird, aus dieser Pandemie herauszukommen. Für mich grenzt es immer noch an ein Wunder."

Die Staatlichkeit allerdings hat nicht in gleicher Weise segensreich gewirkt. Mascolo erinnert daran, dass der Verweis auf das Versagen der EU nicht viel mehr als eine Ausrede ist: „Man darf nicht vergessen, wer in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres die EU-Ratspräsidentschaft innehatte – das war Deutschland. Man darf nicht vergessen, dass der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn auch unter den Gesundheitsministern der EU den Vorsitz gehabt hat."

Deshalb trage Deutschland laut Katja Gloger eine Mitschuld am verpatzten Start der Impfkampagne: „Es hätte politische Kraft und politische Führung gebraucht zu sagen, wenn in der Pandemie Geschwindigkeit die wichtigste Währung ist, dann ist es eine zentrale politische Aufgabe, und zwar im Zweifel für das Land, das die EU-Präsidentschaft innehat, und die höchsten wirtschaftlichen Ressourcen besitzt, dafür zu sorgen, dass dieser Prozess innerhalb der EU erheblich an Geschwindigkeit aufnimmt."

Die Corona-Pandemie wirke wie ein Brennglas für gesellschaftliche Missstände. Georg Mascolo sagt: „Vieles von dem, was wir jetzt erleben, was in diesem Land nicht funktioniert, hat auch etwas mit der Frage zu tun: Wer hat dieses Land eigentlich die letzten 16 Jahre regiert."

Das Fazit der beiden über Angela Merkel fällt niederschmetternd aus: „Sie ist gut in der Analyse und schlecht im Abliefern. Deutschland ist unter seinem Potenzial geblieben."

Dazu passt auch: Viele Corona-Experten haben vorhergesagt, dass jetzt die dritte Welle durch Deutschland wüten würde. Für April und Mai wurde mit Zigtausenden Toten und einer Inzidenz von 2000 gerechnet.

Anfang Februar schrieb der „Spiegel" einen Artikel zur Corona-Lage. Die britische Mutante mache alle bisherigen Eindämmungspläne zunichte, stand dort, die Infektionen würden schon bald bei über 50.000 Fällen pro Tag liegen. Um auch dem Begriffsstutzigsten den Ernst der Lage vor Augen zu führen, hatte die Redaktion eine Grafik angefertigt, in der sich die Infektionen wie ein dunkle, alles verschlingende Welle aufbauten.

Jeder Tag, an dem man nicht entschieden gegensteuere, würde unweigerlich ins Chaos führen, lautete die Botschaft. Einen Zustand nahe an der Unregierbarkeit, mit überquellenden Intensivstationen, verzweifelt um das Leben der Eingelieferten kämpfenden Ärzten und Abertausenden von Toten.

Und nun? Nun liegt die Inzidenz nicht bei 1200, wie für den Mai vorhergesagt, sondern bei 90. Das ist immer noch hoch, aber doch himmelweit entfernt von dem Schreckensszenario, das die Befürworter eines Ultra-Lockdowns an die Wand malten. Ein Glück, dass es so gekommen ist. Andererseits würde man schon gerne wissen, was schieflief. Wir reden bei der Abweichung auch nicht über eine Kleinigkeit, einen Zahlendreher, wie er mal vorkommen kann. Der Inzidenzwert ist der heilige Gral der Politik. An dieser Zahl hängt alles: Grundrechtseinschränkungen, wie man sie nicht einmal im Kaiserreich kannte. Die Schließung der Schulen, die eine ganze Generation von Kindern in ihrer Entwicklung zurückwerfen wird, die weitgehende Stilllegung des öffentlichen Lebens und damit die Zerrüttung der Lebensgrundlage von Millionen.

All das und viel mehr erschüttern das Vertrauen in die Führungseliten Deutschlands. Schon drohen, bei einer grünen Regierung, weitere Lockdowns, diesmal um vorgeblich das Klima zu schützen. Sie sind immer mit Einschränkung der Grundrechte wie z. B. freie Berufsausübung, Bewegungseinschränkungen, Fleischverzehrverbote etc. verbunden.

Aktuell haben wir schon eine gelenkte Demokratie mit einer politischen Korrektheit, diese besondere Form der Gleichschaltung, das uniforme politische Denken und Medien die diesen Kurs positiv begleiten.

Wer anderer Meinung ist, wird öffentlich diffamiert, wirtschaftlich ruiniert und so mundtot gemacht. Ein „falsches" Wort reicht. Mittlerweile reichen schon unkorrekte Wörter oder Redewendungen (Quotenneger, trainieren bis zur Vergasung) aus um als Rassist oder schlimmeres bezeichnet zu werden und obendrein seine wirtschaftliche Existenz zu verlieren.

Wann erfolgt die nächste Eskalierungsstufe dieser Kulturrevolution der Gesinnungsethiker? Werden dann Andersdenkende in die GULAGS deportiert? Robespierre lässt grüßen!

Die Revolution der Gesinnungsethiker frisst ihre Kinder

Wo soll das alles enden? Straßen werden umbenannt, Statuen gestürzt, Bücher aus dem Sortiment verbannt (verbrannt?), Menschen sozial kaltgestellt. Die Vergangenheit wird gesinnungsethisch der Gegenwart angepasst. Die Revolution der Gesinnungsethiker hat eben erst begonnen. Und ja, es ist tatsächlich eine Revolution.

In Charles Dickens' „Tale of Two Cities" strickt Madame Defarge kurz vor der Französischen Revolution einen Schal. Er „wird täglich länger und enthält die Namen jener, die von den Revolutionären umgebracht werden sollten". Monsieur D. graut es, sie solle aufhören. Kalt pariert sie: „Befehle das doch dem Wind und Feuer, nicht mir!" Und: „Es hört nie auf. Es frisst sich immer weiter."

Das ist das Wesen aller Revolutionen. Sie beginnen mit den hehrsten Werten: Liberté, Égalité, Fraternité, den „Menschen- und Bürgerrechten" von 1789. Diese verankerten Unveräußerliches wie Freiheit, Eigentum und Widerstand gegen Willkür. Sodann Gleichheit vor dem Gesetz, Unschuldsvermutung, Meinungs- und Glaubensfreiheit.


Die Logik der Säuberung

Leider verschied das Ideal in der Grande Terreur, die laut Robespierre ein „Ausfluss der Tugend" sei. Die Tugenddiktatur kerkerte Hunderttausende ein und fraß Zehntausende, auch die eigenen Kinder: Danton, Saint-Just, schließlich Robespierre. Dass sich Revolutionen radikalisieren, ist ein eisernes Gesetz.

Dabei hatte Robespierre als unbeugsamer Liberaler begonnen. Hellsichtig sagte er gegenüber seinen Jakobinern 1792 warnend: „Die schönste Revolution verkommt zum schändlichen System von Machiavellismus und Heuchelei." Dagegen sei der Konvent der „Boulevard der Freiheit".

Tatsächlich führte der Konvent in die Tyrannei. Denn, so Robespierre: Das Volk wolle zwar das Gute, „sieht es aber nicht immer und ist leicht irrezuführen". Folglich müsse die jakobinische Avantgarde die volonté générale verkörpern. Stete „Säuberung" müsse das Böse ausmerzen, die Meinung lenken und die Pressefreiheit beschneiden, die Robespierre zuvor zelebriert hatte. Nun hieß es: „Ächtung der perfiden, konterrevolutionären Schreiberlinge und Verbreitung des korrekten Schriftguts." Sittlichkeit erfordere Zwang. Worte für die Ewigkeit, auch 200 Jahre später.


Das Gleichdenk in China und den USA

Wie eh und je flankierte die Kulturrevolution die politische. In den Müll mit den alten Begriffen! Die Woche hatte nun zehn Tage, diese zehn Stunden. Primi statt Montag, Brumaire statt November. 1789 war das Jahr eins der neuen Zeitrechnung. Die Absicht lag auf der Hand: Wir setzen die Ausdrücke und formieren so das Denken. Weg mit christlichen Bezügen, den Begriffen der alten Machthaber. George Orwells Neusprech klingt so wie ein Plagiat. Wer Kopf und Sprache beherrscht, besetzt die „Kommandohöhen des Staates", um einen berühmten Lenin-Spruch abzuwandeln.

Dazu mussten Mao Zedong und die Roten Garden der „Großen Proletarischen Kulturrevolution" nicht in Antonio Gramscis „Gefängnisheften" stöbern, wo er die kulturelle Hegemonie als Sprungbrett zur Staatsmacht definierte. Es gehe um die „Seelen der Menschen", um ihre „Weltanschauung", verkündete die „Rote Fahne" 1967. Selbst Maos Widersacher Liu, den Pragmatikern zugerechnet, gab den Robespierre: „Die Volksmassen sind rückständig und müssen von der Partei geführt werden." Mao forderte ihre „sozialistische Erziehung", also Gleichdenk.

Es war wie jede Revolution nicht ein Aufstand der Massen, sondern der Intelligenzia, die sich zuerst in den Universitäten formierte. Erziehung gehört zu den ersten „Kommandohöhen", die zu erstürmen sind. Chinas Lehrer wurden gefoltert, in den Selbstmord getrieben. Die Glücklichen kamen mit geschorenem Kopf davon. Es war wie immer kein Klassen-, sondern ein Elitenkampf: eine Parteiclique gegen die andere, die jungen Studenten gegen die Absolventen von gestern. Gnadenlos verfolgten die Garden die etablierten Akademiker. Die Revolte mündete in der ungezügelten Radikalisierung. Von 1966 bis 1976 wurden in China Millionen Menschen umgebracht.

Gnädigerweise geht es an US-Institutionen im Vergleich recht zivil zu. Wenn Leute, die „woke" sind (aufgewacht, erleuchtet), Gutdenk verfügen – zielen sie auf den sozialen, nicht auf den physischen Tod. Es werden Lehrer, Journalisten und Autoren des Falschdenk bezichtigt und gecancelt oder gefeuert. Heute werden im Westen Straßen und Plätze umbenannt, Statuen gestürzt, Bücher aus dem Sortiment von Verlagen verbannt. In China wurden Denkmäler „dekonstruiert", Kulturstätten geschändet, kostbare alte Bücher verbrannt.


Die zwei Arten des Todes

Es geht stets um die Macht, die im Mäntelchen des Gutdenk daherkommt. Wer hat, wer bekommt sie und kommt an die Tröge der Privilegien? Der existenzielle Unterschied zu 1789 und 1966 ist der zwischen physischer und moralischer Grausamkeit.

Die physische – Tortur, Terror, Tod – tobte in Paris und Peking. Die moralische ist nicht nackte Gewalt, sondern laut der Harvard-Philosophin Judith Shklar, die vor den Nazis floh, ebenfalls ein summum malum – die „systematische Erniedrigung, so dass die Opfer irgendwann weder sich noch anderen trauen können". Ihnen drohe die moralische Vernichtung. Der Feind der Freiheit seien „Machtmissbrauch und Einschüchterung" durch „Staats- und Gesellschaftsmacht". Der Frevel ist das Sein (heute: „Whiteness"), nicht das Tun; schon das Falschdenk ist Verrat.

Der Sühne gehen zwingend Selbstanklage und -erniedrigung voraus – heute wie in den Schauprozessen unter Stalin, Hitler und Mao. Blos regiert nunmehr nicht das Fallbeil, sondern die seelische Exekution. Geht der Delinquent tief genug in die Knie, behält er vielleicht seinen Job. Wenn nicht, gerät er in den Cancel-Kerker oder aufs moralische Schafott, das Würde und Existenz beseitigt. Ganz ohne ordentlichen Prozess; die Anklage ist schon Beweis – wie vor dem „Wohlfahrtsausschuss" oder den Tribunalen der Kulturrevolution. „Black Lives Matter" ist korrekt, „All Lives Matter" kaschierter Rassismus.

Gemäß dem eisernen Gesetz radikalisiert sich auch die unblutige Revolution, und sie spiegelt Sigmund Freuds Einsicht in die unaufhaltsame Ausweitung der Wahnvorstellungen. In der Fallstudie „Der kleine Hans" hat der Patient zunächst Angst vor einem weißen Pferd, dann vor einem schwarzen. Dann vor Gäulen mit Riemen ums Maul und solchen, die Stell- und Möbelwagen ziehen. Schließlich fürchtet Hans alle Pferde, große Tiere überhaupt. Die Phobie expandiert. Hans will nicht mehr auf die Straße. Doch vergebens, denn ein Pferd werde in sein Zimmer eindringen.

Ebenso läuft es in der Revolution. Zu Beginn, beim Sturm auf die Bastille, ging es um konkrete Übel und edelste Grundsätze – schließlich wird die Schuld grenzenlos, was für alle Erhebungen gilt. In Amerika fuhr die Bürgerrechtsrevolution der sechziger Jahre die besten Traditionen der Nation gegen den Rassenwahn auf. Warum war „life, liberty and the pursuit of happiness" nur Weißen gegeben, warum durften Schwarze nicht wählen, in „White only"-Restaurants sitzen? Mittlerweile ist Weißsein in den USA zur Erbsünde geworden – nur wer „woke" genug ist, erhält Absolution.


Die neue Urschuld

Es hilft nicht, dass ein schwarzer Präsident gleich zweimal gewählt wurde. Dass 84% aller weißen Amerikaner Ehen zwischen Schwarz und Weiß gutheißen, statt weiland nur 4. Dass ein Dutzend Bürgerrechtsgesetze verabschiedet worden sind, Gleichstellung Staatsräson ist. Die Schlachtrufe sind nun „systemischer Rassismus", „unbewusstes Vorurteil", „Mikroaggression" – buchstäblich unfassbare Tatbestände à la chinoise (chinesisch).

Das prinzipielle Problem: Wenn das Böse „strukturell" ist, hilft nur die Abrissbirne. Wenn Entwürdigung unbewusst ist, müssen 236 Mio. weiße Amerikaner in die Gehirnwäsche. Mikroaggression bedeutet universelle Sprachkontrolle. Hinter der Radikalisierung lauert eine totalitäre Dystopie. Wenn Rassismus unausrottbar ist, müssen die demokratischen Mechanismen logischerweise versagen: Wahlen, Koalitionen, Kompromisse.

Wenn „Whiteness" die Urschuld ist, gibt es keine Erlösung. Denn Weiße können ihre Hautfarbe ebenso wenig wechseln wie Schwarze. Es bleibt die zwanghafte Ausweitung der Sündhaftigkeit in Gegenwart und Vergangenheit. Washington und Jefferson hatten Sklaven, raus aus dem Pantheon! Mathematik ist Pythagoras und Euklid, also „weiß"; ergo verteilt das Bildungsressort von Oregon eine 80-seitige Anleitung, die den „Rassismus im Mathematikunterricht beseitigen" soll, dazu die „weiße Oberherrschaft" über Zahlen und Zeichen. Die Kids lernen nicht, dass dunkelhäutige Inder die Null sowie das Dezimalsystem erfunden haben, dass wir Arabern die Algebra und den Algorithmus verdanken.

So gerät das Obsessive zum Absurden, das Logik und Unterscheidung zerlegt. Ein groteskes Beispiel ist eine Ikone der englischen Literatur, Jane Austen (1775–1817). An der Autorin von „Stolz und Vorurteil" klebt nun der Verdacht. Sie habe, so das Austen-Museum, Zucker, Tee und Baumwolle geschätzt – Produkte des britischen Imperialismus. Also schuldig, weil das Schleckermaul dergestalt im Sklavenhandel verstrickt war. Das wäre nicht einmal Robespierre eingefallen; der hat aus Asien bloß das Dezimalsystem geklaut. Eine logische Falle tut sich auf. Wenn alles Rassismus ist, dann ist nichts Rassismus.

Wie soll das enden? Die Jakobiner wurden von Napoleon, die Kulturrevolutionäre letztlich von der chinesischen Armee entmachtet. Heute mag eine literarische Vorlage weiterhelfen: Joseph Hellers Bestseller „Catch-22", eine bittere Satire über den Zweiten Weltkrieg. In einer US-Air-Force-Basis in Sizilien grassiert plötzlich die Angst vor dem Kommunismus. Die moralisch-patriotische Aufrüstung beginnt mit einem einzigen Treuegelöbnis bei der Materialausgabe. Dann die unaufhaltsame Flut: an der Kasse, beim Friseur, in der Kantine – erst am Eingang, dann bei jeder Beilage bis hin zum Salzfass. Je mehr Eide einer schwur, desto höher sein Tugendpegel. Bis der ergrimmte Major de Coverley, eine Art Gottesgestalt, am Tresen losbrüllt: „Gib mir was zu fressen, allen was zu fressen!"

Das war das Ende der „Glorious Loyalty Oath Campaign" (Treueeidkampagne). Irgendwann kollabiert das Absurde unter seinem ausufernden Gewicht. Allerdings ist der Westen etwas grösser als ein fiktiver Luftwaffenstützpunkt. Und Deutungshoheit ist die Trumpfkarte – der Garant politischer Vorherrschaft.

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