Bandenkriminalität hält Schweden in Atem - 15. Oktober 2022

Bandenkriminalität hält Schweden in Atem –
ihre Ursache liegt auch in den segregierten Migranten-Vorstädten

Schießereien im öffentlichen Raum und immer jüngere Täter: Die Bandenkriminalität droht Schweden über den Kopf zu wachsen. Während eine Gegenstrategie gesucht wird, fehlt im Land eine selbstkritische Diskussion darüber, wie es so weit kommen konnte.

Wir wollen keine Chinatown in Schweden, wir wollen keine Somalitown und kein Little Italy. Wir wollen durchmischt wohnen mit den Erfahrungen, die alle mitbringen." Magdalena Andersson, die Chefin der schwedischen Sozialdemokraten, liess mit diesem Votum kurz vor der Parlamentswahl Mitte September aufhorchen.

Es waren überraschende Worte aus dem Mund der amtierenden Ministerpräsidentin. Von Sozialdemokraten, zumal von hochgestellten, hatte man solche Töne noch nie vernommen.


Segregation wird zum Thema

Andersson gab damit im Wahlkampf einer politischen Initiative ihres Ministers für Migration und Integration Rückendeckung. Dieser hatte angeregt, in Wohnvierteln mit hohem Immigrantenanteil die Quote „nichtnordischer" Bewohner zu deckeln, um der gesellschaftlichen Segregation Herr zu werden. Segregation dürfe man nicht nur nach sozioökonomischen Kriterien definieren; auch ethnische Zugehörigkeit könne eine Rolle spielen.

Eine ähnliche Maßnahme hatte vor ein paar Jahren in Dänemark eine bürgerlich-konservative Regierung lanciert, mit dem Ziel, die notorischen „Ghetto-Bezirke" aufzubrechen. Damals hagelte es Kritik von vielen Seiten, nicht zuletzt aus dem Mund schwedischer Linker. Inzwischen scheint das dänische Rezept still und leise den Weg auch in die Ausländerpolitik der schwedischen Sozialdemokratie gefunden zu haben.

Eine hohe Konzentration von Immigranten in gewissen Wohnvierteln städtischer Agglomerationen gibt es in Schweden zwar schon lange. Zum heiß diskutierten Thema ist die gesellschaftliche Segregation in den vergangenen Jahren aber erst durch ein Phänomen geworden, das viele Schwedinnen und Schweden stark beunruhigt: die Bandenkriminalität. Sie drängt immer mehr in den öffentlichen Raum, und zwar in einem Ausmaß, das man früher nicht kannte.

Wildwuchs im Bandenwesen

Mehrfach schon sind dabei Unbeteiligte zu Schaden oder sogar zu Tode gekommen – auch Teenager und Kinder. Auch die Täter werden immer jünger. Die Gesellschaft und ihre Sicherheitsorgane scheinen die Gewaltspirale nicht stoppen zu können.

Die Situation ist deutlich volatiler geworden", sagt Camila Salazar Atías, eine führende schwedische Kriminologin für Fragen der Bandenkriminalität. „Bei manchen Gangs fehlen heute starke Führungsfiguren und feste Strukturen. Dadurch entsteht Raum für interne Rivalitäten. Wer mehr Macht will und eine Gelegenheit dazu sieht, versucht sie zu ergreifen. Zumal der Zugang zu Waffen einfacher geworden ist und ein Gangmitglied nicht mehr langwierig in einer Hierarchie aufsteigen muss, um an Schusswaffen zu kommen. Es hat sich eine Subkultur innerhalb der Subkultur gebildet."

Auch andere Fachleute, die sich mit Bandenkriminalität beschäftigen, heben die Bedeutung von Konflikten innerhalb von Gangs hervor. Mehrere Chefs seien in letzter Zeit mit langen Strafen im Gefängnis gelandet, nun kämpften Jüngere um die Spitzenpositionen.

Dass immer mehr jüngere, teilweise minderjährige Täter in Schießereien verwickelt sind, hat jedoch auch eine andere Ursache. Im schwedischen Recht gab es lange einen sogenannten Strafrabatt für Jugendliche zwischen 15 und 20 Jahren: Sie konnten für gleiche Straftaten mit deutlich milderen Urteilen rechnen als über 21-Jährige.


Der Strafrabatt verlagert das Problem

Der Strafrabatt wurde in den 1930er Jahren mit dem Ziel eingeführt, jugendlichen Kriminellen die Resozialisierung zu erleichtern und die Gefahr einer Verrohung im Gefängnis zu vermindern. Aber angesichts der zunehmenden Bandenkriminalität beschloss das Parlament auf Anfang 2022, den Strafrabatt für 18- bis 20-Jährige aufzuheben für Verurteilungen von über einem Jahr Gefängnis. Damit will man verhindern, dass Gangs weiterhin Jugendliche für Straftaten beauftragen, die, wenn sie gefasst werden, schneller wieder freikommen.

Den Strafrabatt haben wir zwar nicht mehr", sagt Camila Salazar Atías, „aber die strukturellen Gründe der Bandenkriminalität sind immer noch da. Die Gangs setzen jetzt einfach noch jüngere Mitglieder für Straftaten ein." Jünger bedeute auch unerfahrener, und das sei mit ein Faktor für den Wildwuchs im Gefüge des Bandenwesens, der in letzter Zeit zu beobachten sei.

Zwar hat die Polizei einige bemerkenswerte Ermittlungserfolge erzielt, seit sie Zugang zu Software erhalten hat, mit der sich verschlüsselte Chat-Programme knacken lassen. Doch generell, sagt Salazar Atías, sei die Aufklärungsrate bei Schießereien mit etwa 25% immer noch viel zu niedrig. Wenn Kriminelle gute Aussichten hätten, nicht gefasst zu werden, verliere auch die Drohung mit höheren Strafen ihre Wirkung.


Die Stockholmer Parallelwelten

Von der Bandenkriminalität und ihren Auswüchsen betroffen sind vor allem die derzeit 61 Stadtquartiere, die von der Polizei auf einer jährlich aktualisierten Liste als „sozial exponiert" (28 Bezirke), „risikobehaftet" (14) und „sozial besonders exponiert" (19) geführt sind. Ausschlaggebend für die Klassifizierung sind Kriterien wie die Existenz segregierter Gesellschaftsstrukturen, eine überdurchschnittlich hohe Kriminalitätsrate oder Schwierigkeiten der Polizei, das staatliche Gewaltmonopol durchzusetzen. Zu etwa zwei Dritteln liegen diese Bezirke in den Agglomerationen um die Großstädte Stockholm, Göteborg und Malmö.

Dazu gehört auch Rinkeby im Nordwesten Stockholms, das wohl bekannteste Problemquartier in Schweden. Blickt man auf die Passanten statt auf die Häuser, fällt auf, dass fast alle einen Migrationshintergrund haben. Laut Statistik sind es in Rinkeby 92%; besonders stark vertreten sind Personen, die aus Afrika und Mittelost stammen.

Ähnlich sieht es in Tensta aus, einem mit rund 16.000 Einwohnern etwa gleich großen Stadtteil ebenfalls im Nordwesten von Stockholm. Hier ist Ahmed Abdirahman aufgewachsen, ein Somalier, der kurz vor der Jahrtausendwende im Alter von zwölf Jahren nach Schweden gekommen ist. Erst nach dem Abschluss der Mittelschule habe er festgestellt, dass es außerhalb von Tensta ein ihm unbekanntes, völlig anderes Schweden gebe – das „Schweden der Schweden". So groß sei das Ausmaß der Segregation.


Fehlende Selbstreflexion der Mehrheitsgesellschaft

Es ist zwingend erforderlich, Jugendlichen aus der zweiten Generation von Zuwandererfamilien die Grundlagen für eine positive Lebensperspektive zu vermitteln. Die starke räumliche Segregation vermindert die Bildungschancen, denn in Schulen, in denen eine große Mehrheit von Kindern nicht Schwedisch als Muttersprache hat, ist schon allein die sprachliche Integration als Basis der Wissensvermittlung eine Knacknuss. Zudem kämpfen Schulen in Immigrantenquartieren nicht selten auch mit einem Mangel an qualifiziertem Personal sowie erheblicher Fluktuation, da die Arbeit aufreibender ist als anderswo.

Das färbt später auf die beruflichen Perspektiven der Jugendlichen ab. Eine Untersuchung des Lehrerverbandes zeigt, dass in den Schulen der segregierten Vorstädte die Quote von Schülerinnen und Schülern überdurchschnittlich hoch ist, die die neunjährige obligatorische Grundschule ohne einen Abschluss verlassen, der zum Besuch einer weiterführenden allgemein- oder berufsbildenden Schule berechtigt. Der Anteil liegt in den Problemquartieren bei 33%, während es im Landesdurchschnitt bloß 14% sind.

Ohne Besuch einer weiterführenden Schule stehen jedoch die Aussichten auf Arbeit und Einkommen von Anfang an schlecht. Für Jugendliche mag in einer solchen Situation die „Karriere" in einer kriminellen Bande eine verlockende Alternative sein.

Wer sich von vornherein vom Gemeinwesen im Stich gelassen fühle, habe auch wenig Motivation, sich mit diesem zu identifizieren, sagt die Kriminologin Salazar Atías. Politik und Mehrheitsgesellschaft hätten hier bisher zu wenig getan, um Abhilfe zu schaffen.

Die Einsicht, dass die zahlenmäßig große Zuwanderung auch starke Mechanismen für eine erfolgreiche Integration brauche, habe sich erst in den vergangenen zehn oder fünfzehn Jahren eingestellt. Zuvor seien Fehlentwicklungen wie zum Beispiel eine übermäßige Konzentration spezifischer Zuwanderergruppen in gewissen Vorstädten nicht hinterfragt worden. Man habe sich der Illusion hingegeben, dass die Integration irgendwie von selbst passieren werde.

Die Mainstream-Gesellschaft müsste die Verantwortung für diese Defizite akzeptieren", sagt Salazar Atías. „Doch es fehlt weitgehend ein Bewusstsein dafür, selber ein Teil des Problems zu sein." Die Schuld für die missglückte Integration suche man einseitig bei den Zuwanderern.

Das sei keine gute Voraussetzung dafür, diese für mehr gesellschaftliches Engagement zu gewinnen. Und es gelte zu bedenken, dass Einwohner mit Migrationshintergrund inzwischen rund 20% der schwedischen Bevölkerung ausmachten.

Parallelen mit Deutschland sind unverkennbar. Auch in Deutschland ist Segregation überall mit all ihren negativen Folgen erkennbar. Hier könnte Dänemark und Schweden eine Vorbildfunktion einnehmen, wenn da nicht die Gesinnungsethiker wären.

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