Aktuelles zum Niedergang der Mittelschicht am 10. Februar 2019


Was tun gegen die Spaltung der Gesellschaft? –

Klassenkampf zwischen Kosmopoliten und Mittelschicht -

Eine Gesellschaft löst sich auf -

Moralische Empörung und Ausgrenzung Andersdenkender beherrschen den öffentlichen Diskurs. Der Bundespräsident hat Recht: Wir müssen einander zuhören und sachbezogen über die Lösung von Problemen streiten.

Man kann an einem beliebigen Wochentag gegen 22.00 Uhr das öffentlich-rechtliche Fernsehen anschalten und sieht meistens ähnliches, nämlich eine Talkshow. Was noch mehr auffällt, ist die Besetzung. Der Moderator wechselt, die Gäste sind nahezu immer gleich: Eine Handvoll überaus eloquenter Berufspolitiker aus (nahezu) allen Parteien, einige Unternehmer und wenige zum jeweiligen Thema einschlägige Experten diskutieren über aktuelle Fragen. Dabei weist das Wort „nahezu" auf ein Grundproblem dieser Sendungen hin. Denn es fehlen fast immer Vertreter der Alternative für Deutschland (AfD), über die dafür umso öfter geredet wird. Mit Blick auf diese Partei herrscht in der Regel große Einigkeit, sie gilt als Paria unter den Parteien; man empört sich regelmäßig lauthals über sie. Im Bundestag das gleiche Bild: Mit AfD-Politikern spricht keiner, das Verhältnis scheint sehr hassvoll zu sein.

Gleiches beobachtet man im täglichen Leben. Geradezu aufgelöst wird davon berichtet, dass es in der Schulklasse der Kinder einen Jungen gebe, dessen Eltern AfD wählen. Mit diesen könne und wolle man nichts mehr zu tun haben. Am besten wäre es, der Junge würde von der Schule verwiesen.

Eine Waldorfschule hat sich entschieden, das Kind eines Berliner AfD-Abgeordneten nicht aufzunehmen. Hier wird ein Kind in Sippenhaft genommen für die Ansichten eines Mannes, für die ein sechsjähriges Kind beim besten Willen nichts kann.

Bisherige Höhepunkte dieser „Ausgrenzung-des-Bösen-Manie" ist der Bombenanschlag in Döbeln auf ein AfD-Büro, die Körperverletzung eines AfD-Politikers in Bremen.

Noch radikaler ist der Kommentar der MOPO: Redet AfD-Fans nicht mehr nach dem Mund!In einer gerechten Welt müsste man AfD-Fans das Wahlrecht entziehen". Auch der Gewaltaufruf der Berliner Tageszeitung (taz) gegenüber AfD-Politikern, ihren Anhängern und weiteren konservativen und rechten Kritikern der Regierungspolitik, überschreitet eine Grenze, die mit hoher Wahrscheinlichkeit mehrere Straftatbestände erfüllt.

Meinungsfreiheit also nur für moralisierende Gesinnungsethiker? Daher nochmal zum Mitschreiben: Artikel 5 Grundgesetz „(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt."

„Nazis raus" ist aber das Gebot der Stunde. Woher kommen plötzlich die vielen Nazis, die niedergeschlagen, rausgeworfen oder deportiert werden sollen? Und wo ist dieser nazi-beherrschte Gewaltstaat, der die Bevölkerung unterdrückt?  

Justiz und Polizei sind harmlos. Die Bundeswehr wäre vermutlich nicht einmal in der Lage, Liechtenstein zu besetzen, denn die haben eine Burg. Die Technik in Fluggeräten der Bundeswehr stürzt wegen Wartungsmängeln ab, ihre Schiffe haben keine Mannschaften, ihre Panzer keine Munition. Die Bundeswehr kümmert sich stattdessen um Babyausstattung und, man glaubt es nicht, um Luftregulierung in den Schützenpanzern, die auch Schwangeren den Einsatz erlauben sollen. Hinzu kommt: Frau Merkel hat zunächst die Wunschnachfolgerin in ihrer CDU durchgesetzt. Z. Z. klärt sie noch die Führungsfrage bei der SPD. Frau Merkel will beide Parteien im geordneten Zustand hinterlassen, wenn sie aus dem Amt scheidet: die eine, deren Politik sie vertreten hat. Und die andere, deren Vorsitzende sie war.

Wo sind in diesem Land Nazis, wenn man von ein paar echten Spinnern absieht, die es immer und überall gibt? Die inflationäre Verwendung des Begriffs „Nazi" zeigt nur dass die Bildung auf den Hund gekommen ist. Der Begriff „Nazi" wird von infantilen Erwachsenen benutzt, in Sendern, in Redaktionen, in politischen Parteien, die gar nicht mehr merken, wie sie die Verbrechen der echten Nationalsozialisten und ihrer willigen Helfer verharmlosen. Sechs Millionen Tote in Gaskammern, Krieg und Verfolgung, flächendeckende Verwüstung, Mord, Totschlag, jede Gemeinheit, was immer an Verbrechen denkbar war. Das steht für Nazi. Und heute?

Nazi" ist neuerdings jeder, der was: ja, was macht er denn, was macht ihn aus? Es geht wohl um mehr. Es geht um die Spaltung des Landes. Die demokratische Mitte, die Mittelschicht und die untere Mittelschicht sollen aus dem öffentlichen Bild dadurch gelöscht werden, dass man die Bürger in zwei Gruppen teilt: Die guten, die Frau Merkels Zuwanderungspolitik kritiklos unterstützen. Die bösen, die es wagen, daran Kritik zu üben. Und weil die Methode so wirksam ist, wird gleich ein ganzer Kanon von erlaubten / erwünschten und verbotenen Einstellungen mit abgeurteilt: Richtig liegt, wer die steigenden Kosten und zunehmende Umweltzerstörung der Energiewende gut findet, Null-Zinsen für eine Erfindung hält, die die Menschen endlich aus der Zins-Knechtschaft befreit und an die Suppenküchen der staatlichen Rentenversicherung führt, und die Tatenlosigkeit der Kanzlerin in der EU-Politik gut findet. „Nazi" ist auch, wer Unsinn Unsinn nennt. Die Amadeu Antonio Stiftung führt als Anfangsverdacht bei Kindergartenkindern an: Blonde Zöpfe, ordentliche Kleidung und Sportbegeisterung.

Längst hat der Begriff eine neue Konnotation (Begriffsinhalt). Die „Nazi"-Nenner merken gar nicht mehr, was sie anrichten: Dass sie längst die eigentlichen Holocaust-Leugner sind, weil sie jeden trivialen Widerspruch „Nazi" nennen. Und gleichzeitig das tun, wofür der Nationalsozialismus tatsächlich stand: Andere Meinungen auszugrenzen, niederzubrüllen, zu ächten, möglichst zu vernichten, in jeder Form jeden Diskurs auszumerzen.

Längst lassen sie sich zu verbalen Gewaltakten hinreißen wie die taz aus Berlin, die MOPO aus Hamburg und gerieren sich nicht einmal mehr betroffen, wenn dann vermummte Schlägerbanden ihr Werk verrichten. Gegen Nazis ist ja alles erlaubt, auch dass die Anti-Nazis selbst zu welchen werden. Antifa-Fans sprechen schon von Deportation von solchen „Nazis". Diese ihre Allmachtsphantasien kennen keine Grenzen mehr. Es ist eine seltsame Infantilität (kindisches Wesen, Unreife), die dieses Land mit seiner alternden Bevölkerung erfasst hat.

Es gibt zwar keine „Nazis", aber sie werden gejagt. Riesige Organisationen mit hunderten von Millionen aus der Steuerkasse wurden gegründet, um „Nazis" zu jagen, auch an Kindergärten und Schulen. Nur, dass die Folgen ernster sind. Denunziation und Spaltung werden gefördert. Die Demokratie verliert ihre Anhänger, das Land seine Patrioten, die bisherigen Parteien ihre Mitglieder, die Medien Leser und Zuschauer, die Regierung jeglichen Respekt – weil sie Jagd auf eine „Nazi"-Geisterarmee machen, die es nur in ihren Phantasien gibt.

Den Kampf gegen den Nationalsozialismus, wie ihn die Männer vom 20. Juli, wie ihn ein Stauffenberg führte, die Weiße Rose, die Geschwister Scholl, die rote Kapelle oder die Edelweißpiraten und viele andere, derer in Yad Vashem gedacht wird, weil sie Juden gerettet haben – ihr Kampf wird inszeniert als Gesellschaftsspiel der moralisierenden Gesinnungsethiker.

Werden alle Andersdenkende demnächst mit ihren Familien in die GULAGS deportiert, wie von der Antifa schon heute gefordert wird? Wäre dann die Welt gerechter, wenn es keine Andersdenkende gäbe? Keine Völkerwanderung, keine Dürren, keine Überschwemmungen, keine Erdbeben, alle sozialen Probleme gelöst, überall nur Friede, Freude, Eierkuchen?

Diese Konflikte stehen stellvertretend für einen Trend, der sich seit einigen Jahren durch die öffentlichen Debatten, vor allem solche im Internet, zieht. Andersdenkende werden nicht mehr nur diffamiert, sondern mittlerweile auch an Leib und Leben bedroht. Man empört sich über sie und spricht ihnen damit das Recht auf eine eigene Meinung ab.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat diesen Problemkomplex in den Mittelpunkt seiner Weihnachtsansprache 2018 gestellt. Er hat die Menschen darum gebeten, wieder mehr miteinander zu sprechen. Vor allem ist es ihm wichtig, dass Menschen unterschiedlicher Auffassung sich nicht eingraben, sondern das Gespräch suchen.

Niemand erwartet, dass sich davon alle Akteure im politischen Alltag angesprochen fühlen. Aber man sollte erwarten dürfen, dass die meisten Politiker und Bürger sich die Worte des Bundespräsidenten zu Herzen nehmen, zumindest wenn sie an der Sache interessiert sind.

Probleme, die Andersdenkende benennen, dürfen nicht ignoriert werden, weil Andersdenkende sie benennen. Applaus von „falscher Seite" darf nicht abschrecken, wenn es um Lösungen geht.

Der Aufstieg der AfD kann hauptsächlich gerade darauf zurückgeführt werden, dass Probleme verdrängt wurden. Wer z. B. die Wähler der AfD lieber bei den Sozialdemokraten oder den Christdemokraten sieht, muss mit ihnen reden und nicht über sie. Wer die Luft in den Städten verbessern will, sollte das tunlichst nicht gegen die Bürger, sondern mit ihnen angehen. Man muss zuhören.

Das hat der Bundespräsident gemeint. Der Bundespräsident hat nur klar gemacht, dass es Zeit wird, dass wir wieder miteinander streiten – und zwar sachlich. Nur dann können wir die fundamentalen Probleme der Gegenwart lösen und die Spaltung unserer Gesellschaft vermindern.

Klassenkampf zwischen Kosmopoliten und Mittelschicht

Die Proteste der Gelbwesten zeigen: Der Westen ist von einer unübersehbaren Bruchlinie durchzogen. Wenn es nicht gelingt, den Konflikt zwischen Kosmopoliten und den Mittelschichten zu entschärfen, wird die liberale Demokratie untergehen.

Seit Oktober 2018 findet ein „Krieg auf Frankreichs Straßen" statt, an Knotenpunkten, Autobahnzufahrten, Verteilern und auf den Boulevards und Avenuen großer Städte, am schockierendsten in Paris, wo zum Sturm auf den Elysee-Palast gerufen wurde wie einst auf die Bastille am 5. Oktober 1789. Aber wer führt diesen Krieg? Das Volk gegen die Regierung oder umgekehrt die Regierung gegen den Mob?

Der französische Geograf Christophe Guilluy, hat zwei Bücher veröffentlicht: La France périphérique("Peripheres Frankreich") im Jahr 2014 und, nur wenige Wochen vor Ausbruch des Aufstands, No society. La fin de la classe moyenne occidentale ("Keine Gesellschaft. Das Ende des westlichen Mittelstandes"). Darin erklärt er, dass die französische Bevölkerung heute in drei Gruppen eingeteilt ist. Die erste Gruppe ist eine herrschende Oberschicht – die Kosmopoliten -, die vollständig in die Globalisierung integriert ist und sich aus Technokraten, Politikern, hohen Beamten, Führungskräften, die für multinationale Unternehmen arbeiten, und Journalisten, die für die Mainstream-Medien arbeiten, zusammensetzt. Die Mitglieder dieser Klasse leben in Paris und den wichtigsten Städten Frankreichs.

Die zweite Gruppe lebt in den Vororten der Großstädte und in No-Go-Areas ("Zones Urbaines Sensibles"). Sie besteht hauptsächlich aus Zuwanderern. Die französische Oberschicht, die regiert, rekrutiert Menschen, die ihr direkt oder indirekt dienen sollen. Sie werden schlecht bezahlt, aber von der Regierung durch Sozialsysteme hoch subventioniert und leben zunehmend nach ihren eigenen Kulturen und Standards.

Die dritte Gruppe ist extrem groß: Es ist der Rest der Bevölkerung. Es ist diese Gruppe, die als "peripheres Frankreich" bezeichnet wird. Seine Mitglieder setzen sich aus niederrangigen Beamten, Arbeitern, Rentnern, Arbeitnehmern im Allgemeinen, Handwerkern, Kleinunternehmern, Kaufleuten, Landwirten und Arbeitslosen zusammen. Es sind die „kleinen Leute".

Für die herrschende Oberschicht sind sie nur als Steuerzahler interessant, ansonsten aber nutzlos. Die Eliten behandeln sie als bedauernswerte Füllmasse und erwarten nichts von ihnen außer Schweigen und Unterwerfung.

Mitglieder des "peripheren Frankreichs" wurden durch den Zustrom von Zuwanderern und das Entstehen von No-Go-Areas aus den Vororten vertrieben. Diese "Peripheren" leben größtenteils 30 Kilometer oder mehr von den Großstädten entfernt. Sie sehen, dass die Oberschicht sie ablehnt. Sie haben es oft schwer, über die Runden zu kommen. Sie zahlen Steuern, können aber sehen, dass ein wachsender Teil zur Subventionierung genau jener Menschen verwendet wird, von denen sie aus ihren Vororten vertrieben wurden. Als Macron die Steuern der Reichsten senkte, aber die Steuern der "Peripheren" mit einer Treibstoffsteuer erhöhte, galt dies als der letzte Tropfen - zusätzlich zu seiner arroganten Herablassung.

In einem kürzlich im britischen Webmagazin Spiked veröffentlichten Interview sagte Guilluy, dass die Bewegung der "gelben Westen" ein verzweifeltes Erwachen des "peripheren Frankreichs" sei. Er sagte voraus, dass trotz Macrons Bemühungen, das Problem zu lösen, das Erwachen andauern wird, und dass entweder Macron "die Existenz dieser Menschen anerkennen wird, oder er wird sich für einen weichen Totalitarismus entscheiden müssen".

Es gibt diese soziale Geografie, einen Atlas der Bruchlinien in der Gesellschaft, die sich auf der Landkarte ablesen lassen und die Verteilung einander entfremdeter Bevölkerungsschichten in räumlich getrennte Gebiete anzeigen. Und die Front verläuft überall.

Das britische Referendum über den Austritt aus der Europäischen Union, der Sieg Donald Trumps über seine liberale Gegenkandidatin, die Implosion des klassischen Parteiensystems in Frankreich, der Durchbruch der AfD in Deutschland,  die neue Regierungskoalition in Italien,  politische Blockaden  in den  Niederlanden, in Belgien, in Skandinavien  oder Spanien  - allenthalben verstärkt sich in kurzer Zeit die populistische Dynamik, die eine extreme Polarisierung der Gesellschaft ankündigt.


Der Untergang der Mittelschicht wird unbemerkt hingenommen

Die Nationen des Westens spalten sich in zwei Welten: oben und unten, wohlhabend und bedürftig, selbstzufrieden und unglücklich, kosmopolitisch und bodenständig, mobil und sesshaft, fortschrittlich und traditionell.

Zum ersten Mal in der Wirtschaftsgeschichte des Westens, leben die unteren Volksschichten immer mehr nicht mehr dort, wo Beschäftigung und Wohlstand entstehen. Sie werden an die Ränder gedrängt, in eine „periphere" und „periurbane" Welt (Pendlergemeinde), die den Anschluss an die globale Entwicklung verpasst.

Die einst breite Mittelschicht schrumpft. Das begann bei den Industriearbeitern, deren Lebensverhältnisse prekär wurden, jetzt hat sie Landwirte, Angestellte, öffentlich Beschäftigte und Rentner in ländlichen Gebieten sowie die kleinen und mittleren Städte erreicht.

Wir erleben eine Auflösung der bisherigen gesellschaftlichen Strukturen. Während in den demokratischen Gesellschaften des Westens nach dem Zweiten Weltkrieg es die Werte der Mittelschicht, und eben auch der unteren Mittelschicht, waren, die für die gesamte Gesellschaft verbindliche Orientierungspunkte boten, befinden sich jetzt diese Schichten im Niedergang. Zugleich verachtet mehr oder minder offen ein neues kosmopolitisches, postnationales und „cooles" linksliberales Bürgertum - die Kosmopoliten - diese Schicht und ihre Werte.

Für die Schicht, die in westlichen Demokratien einmal den Kern der Wählerschaft der großen demokratischen Parteien stellte, ist das Problem ein doppeltes. Zum einen gerät sie in Folge der Globalisierung und der Digitalisierung, vor der der nationale Wohlfahrtsstaat sie nicht mehr schützen kann oder nicht mehr schützen will, wirtschaftlich unter Druck. Das gilt selbst für einstweilen noch relativ florierende Volkswirtschaften wie Deutschland, wie man an der wachsenden Altersarmut, die jetzt auch bereits Teile der Mittelschicht trifft, sehen kann.

Dazu kommt aber ein wachsender Kulturkonflikt: Die kosmopolitisch, postnational denkenden Eliten haben der eigenen Mittelschicht den Kampf angesagt; man wirft ihren Angehörigen nicht nur Rassismus und Chauvinismus vor, weil sie eher Werte wie Glaube, Familie, Heimat vertreten, obendrein immigrationskritischer sind und am Nationalstaat festhalten wollen, man versucht sie auch durch die Regeln der politischen Korrektheit buchstäblich sprachlos zu machen. Denn es ist natürlich die Alltagssprache der weniger Gebildeten, die sich besonders schwer an das Ideal einer geschlechtergerechten oder gegenüber Minderheiten durchweg sensiblen Sprache, dem „Schönsprech", anpassen lässt. Faktisch bleibt den Menschen, die man im weitesten Sinne des Wortes zum „Kleinbürgertum" rechnen würde, nichts anderes übrig, als sich gar nicht mehr öffentlich zu äußern, wenn sie vermeiden wollen, zum Ziel sprachpolizeilicher Maßnahmen zu werden.

Diese Diskreditierung der Mittelschichten frisst sich immer mehr in die Psyche der Betroffenen, mit verheerenden psychischen Folgen. Eine öffentliche Diskussion oder Forschung über die psychischen Auswirkungen der Globalisierung, Digitalisierung und der unkontrollierten Zuwanderung auf die deutsche Bevölkerung gibt es z. Z. nicht. Wie fühlt sich der diskreditierte vernachlässigte zurückgedrängte alteingesessene Bürger in Stadt und Land?

Denn wenn öffentlich darüber gesprochen wird, reden wir über die Angst vor dem wirtschaftlichen Abstieg oder das gesunkene Sicherheitsempfinden. Die Angst vor dem Heimatverlust, der kulturellen Entkernung stellt allenfalls eine von der Linksbourgeoisie in den Talkshows belächelte Randnotiz dar. Für Menschen, die sich ob Innenstädten voller Kopftücher, Machos und Shishabars kulturell entfremdet fühlen, ist in der „progressiven" linken Welt von heute kein Platz. Sie gelten im harmlosesten Fall als ewiggestrig. Im schlimmsten als böse und als Nazi. Kulturerhaltung ist und bleibt in Deutschland eben ein Exklusivrecht für Zuwanderer.

Würde man dieses Thema ernsthaft diskutieren und nicht ins Lächerliche ziehen, müsste man sich letztlich auch mit Lösungsansätzen wie einem Migrationsstopp und konsequenter Rückführung von Zuwanderern befassen. Doch das darf in der öffentlichen Diskussion nicht einmal in Ansätzen angesprochen werden. Die Wahrnehmung des Verlusts der eigenen Kultur wird öffentlich so lange in die lächerliche Pegida-Nazi-Ecke befördert, bis sich niemand mehr traut, über diese Folgen der Migration zu sprechen.

Das Schlimmste an all dem ist, dass man als normaler Bürger oft nicht einmal mehr darüber reden kann. Nicht nur, weil sich niemand in der Forschung oder öffentlichen Debatte dafür interessiert, sondern weil ein gesellschaftliches und privates Klima geschaffen wurde, das jedem, der es wagt, aus dem politisch korrekten Korridor auszubrechen, mit gesellschaftlicher Ächtung droht. Wie gut das noch immer funktioniert, hat kürzlich erst wieder der Fall des Ex-Handballers Stefan Kretzschmar belegt. Bleibt die Frage: Wohin mit all den Gedanken, Sorgen und Nöten, die man augenscheinlich nicht mehr haben darf?

Als Hobby-Schreiber, der sich kritisch mit den Themen Asyl und Zuwanderung auseinandersetzt, konnte man in den letzten Jahren einen guten Einblick in die Seele derer bekommen, die das Gefühl haben, in ihrem privaten Umfeld, unter Freunden, Familie und Kollegen niemanden mehr zu haben, dem sie ihre politischen Ansichten und die damit verbundenen Sorgen mitteilen können.

Geistige Brandstiftung", die unsereinem gerne vorgeworfen wird, sieht anders aus, es handelt sich, unter diesem Aspekt betrachtet, häufig um genau das Gegenteil. Artikel, Facebook- und Twitterseiten, Kommentarspalten bilden längst ein Ventil für jene, die in ihrem Umfeld sonst keines mehr haben. Die erleichtert sind, wenn sie feststellen, dass sie nicht alleine mit ihren Gedanken sind und das Spektrum derer, die zunehmend politisch vereinsamen eben nicht aus Rechtsextremen, sondern aus ganz normalen Bürgern besteht. Also aus dem, was man vor nicht allzu langer Zeit noch die „gesellschaftliche Mitte" nannte. Ein gesellschaftliches Auffangbecken für jene, die durch das öffentlich-mediale Korsett so voneinander isoliert wurden, dass sie gar nicht realisieren, dass sie die eigentliche Mehrheit sind.

Dass der Völkerrechtler Frank Schorkopf im Zuge der Debatte um den UN-Migrationspakt darauf hinweisen musste, dass Bürger in den entsprechenden Zielländern auch Menschenrechte hätten, sagt alles über den Zustand dieser Gesellschaft aus.

Die Frage, die sich unweigerlich daraus ergibt, ist: Wie lange kann man einen beachtlichen Teil der Bevölkerung diskreditieren, bis das Fass überläuft?

Denn es ist demütigend, an Zuwanderer keine Ansprüche stellen zu dürfen. Mitzubekommen, wie wir für unsere Gutmütigkeit und Naivität von jenen ausgenutzt werden, denen wir mit unseren Steuergeldern ein Leben hier finanzieren. Es ist verletzend, als Nazi bezeichnet zu werden, weil man die derzeitige Asylpolitik für falsch erachtet. Es ist kränkend, kein Gehör in der öffentlichen Debatte zu finden. Als ewiggestrig angesehen zu werden, während ausgerechnet die junge Frau mit Kopftuch als modernes Gesicht des Feminismus gefeiert wird. Und es ist vor allem gefährlich, wenn man über all diese Gefühle nicht reden soll und die Gedanken im eigenen Kopf nicht verschwinden.

Es war der Kriminologe Hans-Dieter Schwind, der nach dem mutmaßlich fremdenfeindlichen Anschlag von Bottrop darauf hinwies, dass er so etwas schon viel früher erwartet hätte. „Es brodelt in den Leuten", so der Kriminologe.

Dieses Brodeln erfahre ich tagtäglich seit 2015. Bei mir. In meinem Umfeld. Bei den Menschen, denen man begegnet. Wie viel Diskreditierung, wie viel psychischen Druck auf jene, die den Laden hier am Laufen halten, verträgt eine Gesellschaft, bis der Unfriede sich endgültig Bahn bricht?

Der Niedergang der Mittelschicht und die gescheiterte Integration

Die Diskreditierung der alten, einheimischen Mittelschicht hat aber Auswirkungen auch auf die zahlreichen Zuwanderer, die immer mehr nach Europa streben. Früher haben sich Immigranten assimiliert, aber diese Assimilation funktionierte nur, weil es für Einwanderer im Alltag sichtbare Vorbilder gab und das waren eben die Angehörigen der unteren Mittelschicht. Die Elite war für sie in der ersten und oft auch in der zweiten Generation unerreichbar, aber sich so zu verhalten wie der einheimische Facharbeiter, dem man in der Fabrik begegnete oder der Bahnbeamte, den man als Kollegen kannte, das war erreichbar, und wenn man sich Deutschland ansieht, dann hat die Integration vieler Gastarbeiter seit den 1960er Jahren genauso auch funktioniert. Heute aber ist dieses Modell obsolet geworden.

Warum sind heute die „Kleinbürger", wenn man sie so nennen will, Verlierer? Zum einen partizipieren sie nicht mehr an den Wohlstandsgewinnen der Wirtschaft, soweit es solche Gewinne überhaupt noch gibt, zum Teil verarmen sie sogar, zum anderen aber vertreten sie jene kulturellen Werte, über die man sich ungestraft lustig machen, die man ungestraft verächtlich machen kann, was etwa gegenüber ethnischen oder religiösen Minderheiten nicht möglich ist.

Wer hat schon Lust sich in seinem Verhalten an eine Schicht anzupassen, die auf dem Weg nach unten ist und von den Eliten so offensichtlich verachtet wird? Dann hält man doch lieber an der eigenen traditionellen Kultur fest und bezieht daraus ein gewisses Selbstbewusstsein. Sicherlich spielen bei der fehlenden Assimilation auch andere, etwa religiöse Faktoren eine Rolle, oder auch die leichtere Verbindung mit der ursprünglichen Heimat über Internet und Satellitenfernsehen.

Eine Gesellschaft löst sich auf


Nie zuvor hat eine Klasse - die kosmopolitisch, postnational denkenden Eliten, die die Medien, die Universitäten und die Politik beherrschen - die eigene Bevölkerung, oder doch zumindest große Teile derselben, so sehr diskreditiert und beleidigt, als „Pack" oder als „deplorables" (beklagenswerte) bezeichnet oder in ähnlicher Form herabgesetzt, wie diese Klasse, der man zu Recht gesinnungsethisches Handeln vorwerfen muss. Die soziale Frage, der Kampf gegen die Ungleichheit, ist zusammengeschrumpft auf die Frage, ob man moralisch die richtige Haltung einnimmt: Wer sich am lautesten über die AfD empört, bekommt den meisten Applaus.

Damit wird die untere Mittelschicht, zu der in Wirklichkeit mittlerweile auch viele Familien mit Migrationshintergrund gehören, ethnisiert und auf die „petits blancs", die weißen Kleinbürger, eingeengt, deren Interessen angeblich nicht dem Zeitgeist entsprechen. Durch das Verschwinden gesellschaftlicher Kohärenz – es gibt keine Schicht mehr, die ein dominantes kulturelles Modell in der Gesellschaft verkörpert – nehmen freilich die ethnischen Konflikte weiter zu. Keine Gruppe will in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld zu einer bloßen Minderheit werden. Das gilt in Frankreich mittlerweile für das neu entstandene Kleinbürgertum nordafrikanischer Herkunft, das sich von Zuwanderern aus weiter südlich gelegenen Regionen Afrikas bedrängt sieht, genauso wie für einheimische Franzosen, die eigentlich auf Sozialwohnungen angewiesen sind, aber diese meiden, weil sie dort unter den vielen Immigranten nur eine geduldete Minderheit wären.

Und so stehen sich zwei Seiten gegenüber, die nur noch wenig teilen: auf der einen Seite die Metropolen, glitzernde Schaufenster der Globalisierung und ihres Zwillingsbruders, des Multikulturalismus, wo die neue Bourgeoisie und eine bunte Vielfalt von Zuwanderern nebeneinander leben.

Und die Peripherie der kleinen und mittleren Städte, der alten Industriegebiete und entlegenen ländlichen Regionen. In ihr konzentrieren sich soziale Kategorien, die früher wenig verband, Arbeiter, einfache Angestellte, prekär Beschäftigte, Landwirte, kleine Selbstständige, Rentner, jetzt vereint durch das Gefühl, einer doppelten Unsicherheit ausgesetzt zu sein: finanziell und kulturell. Sie bleiben unsichtbar, von ihnen spricht man nicht, sie leben unter dem ironischen, herablassenden Blick derjenigen, die intellektueller, gebildeter, beweglicher, moderner sind oder sich dafürhalten. Aber sie machen in Frankreich gut 6o Prozent der Bevölkerung aus.

Von Skandinavien bis zum Mittelmeer, von den USA bis nach Mitteleuropa lassen sich ähnliche Symptome des Umbruchs beobachten.  Und ihre Fieberkurve läuft auf die gleiche tödliche Gefahr zu: das Ende der liberalen Demokratie, wie wir sie kennen. In der wachsenden Kluft zwischen dem einfachen Volk, der in Frankreich immer noch euphemistisch sogenannten „classe populaire", und den aufstrebenden Eliten, dem neuen Establishment, verschwindet die Mittelschicht, der sich bis heute die Mehrheit der Bevölkerung zurechnet und die den soliden Sockel der Demokratie bildete. „Der Untergang der westlichen Mittelschicht ist das große schmutzige Geheimnis der Globalisierung", sagte dazu der französische Geograf Christophe Guilluy, und das gilt für den gesamten Westen.

Ohne die Mittelschichten fehlt der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält. Die Erosion des traditionellen Parteiensystems, die vielfach schon in den Zerfall übergegangen ist, ist dafür ein verlässlicher Indikator. Immer öfter bringen Wahlen keine regierungsfähige Mehrheit mehr hervor. Sowohl der traditionellen Konsensdemokratie (in Deutschland verkörpert durch die Große Koalition) wie auch der Wechseldemokratie (wie in Großbritannien und Frankreich üblich) geht die Puste aus.

Revolutionen fanden bislang immer in den Städten statt. Heute sammelt sich ein revolutionäres Potenzial abseits der dynamischen und strahlenden Metropolen an, ohne Klassenbewusstsein, ohne Führung und Organisation, das zur größten Bedrohung der liberalen Demokratie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs anwachsen könnte.

Viele der aus der Provinz nach Paris gereisten Demonstranten waren seit Jahren nicht oder sogar nie in der Hauptstadt. Mobilität, als modernes Ideal gepriesen, wird in der Realität überschätzt. Ein großer Teil der Franzosen lebt im gleichen Departement, in dem er geboren wurde - genauso wie viele Amerikaner in ihrem Bundesstaat oder County bleiben. Die Postleitzahl gibt Auskunft über ihr Wahlverhalten. Die „Gilets jaunes" (gelben Westen) haben diesen unsichtbaren, von der Politik weitgehend ausgeblendeten und übersehenen Teil der Bevölkerung in grelles Licht gestellt: Ich demonstriere, also bin ich.  Die Peripherie rückt sich ins Zentrum. Nicht eine Minderheit von Abgehängten, Untergebildeten und moralisch Kläglichen - jenen „deplorables", denen Hillary Clinton im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf ihre Verachtung bekundet hatte und Trump davon profitieren ließ - erhebt mit ihnen die Stimme.

Eine disparate (nicht zueinanderpassend), heterogene (uneinheitliche) Mehrheit hat in den vergangenen Monaten die Straßen besetzt, und sie repräsentiert das, was gestern noch  der  Kern  der  Mittelschicht war, von der Politik gern beschworen und dann doch wieder vergessen und vernachlässigt: die kleinen Leute, eine altmodische, fast schon mythische Kategorie, ohne die in der Demokratie, in der bekanntlich jede Stimme unabhängig vom Einkommen und vom Bildungsabschluss gleich viel zählt, nun einmal nichts geht.

Sie sind nämlich, was die Oberen immer wieder zu überraschen scheint, die Mehrheit: das Staatsvolk. Eine Demokratie kann definitionsgemäß nicht ohne das Volk funktionieren, deshalb, so bestätigt es auch der Soziologe und Demograf Emmanuel Todd, „ist der Vorwurf des Populismus genauso absurd wie die Denunzierung der Eliten als solche".

Ein Teil der früheren Mittelschicht - vornehmlich die akademisch gebildeten Babyboomer und ihre Kinder - schließt sich der Oberschicht an, nicht immer ökonomisch, doch moralisch und kulturell. In gewisser Art sind sie die neue Oberschicht: Sie üben die kulturelle Hegemonie, die Deutungs­ und Normierungsmacht, im öffentlichen Diskurs aus. Der Klassenkampf, den sie führen, ist ein Kulturkampf um die öffentliche Moral; die Waffen, die sie schwingen, sind die nicht zu überbietenden Anklagepunkte des Faschismus, des Rassismus und des Fremdenhasses.

Der größere, untere Teil der alten Mittelschicht, von realen Abstiegsängsten für sich und seine Kinder geplagt, verschmilzt allmählich mit den Kreisen, die früher einmal als volkstümlich, heute als populistisch bezeichnet werden. So wird das Volk von den Eliten zum Plebs abgestempelt: eine Masse ungebildeter, niedrig und gemein denkender, roher Menschen. Es ist nicht länger der ökonomische, soziale und kulturelle Bezugspunkt der innere Kompass der Gesellschaft.

Dieser als verletzend empfundene Bedeutungsverlust spitzt sich im Streit um die Migration dramatisch zu. Die Kontrolle der Grenzen und der Zuwanderung ist eine Forderung, die auf überwältigende Zustimmung stößt. Das Meinungsforschungsinstitut Ipsos hat die Haltung der Bevölkerung in 22 Ländern weltweit ergründet und kam zu einem erstaunlichen Befund: Nur 11% der Befragten in Frankreich schrieben der Zuwanderung positive Wirkungen auf ihr Land zu, in der Bundesrepublik Deutschland waren es immerhin 18%. Rund die Hälfte gab an, man habe bereits zu viele Fremde aufgenommen.

Das ist eindeutig: 82% der deutschen Bevölkerung empfinden demnach diese Zuwanderung nicht als positiv. Generell glaube ich angesichts einer Weltbevölkerung von demnächst acht Milliarden Menschen auch nicht an die heilende Wirkung von Massenzuwanderung. Häufig gezogene Vergleiche zu anderen Migrationsepochen überzeugen mich nicht.

Für die Integration der Zuwanderer ist aber die Aufnahmebereitschaft der unteren Schichten entscheidend, denn die Neuankömmlinge wandern nicht in die Oberschicht ein.

Dabei gilt: Der Staat ist Treuhänder des öffentlichen Vermögens in Form der freien Natur und der über Generationen aufgebauten Infrastruktur, und er muss die Funktionsfähigkeit der für jedermann verfügbaren öffentlichen Einrichtungen wie Ämter, Kammern, Gerichte, Polizei, Kitas, Schulen und Universitäten erhalten. Bei der Nutzung all dieser Leistungen besteht eine Rivalität zwischen Zuwanderern und Einheimischen, und die Erbringung und Sicherung der Nutzungsqualität kostet viel Geld, das vornehmlich der deutsche Staatsbürger erarbeitet hat. Ökonomen sprechen hier von Klubgütern. So wie die eigene Wohnung ein Klubgut ist, das der Familie gehört, oder der Fußballplatz ein Klubgut im Eigentum der Vereinsmitglieder, handelt es sich beim öffentlichen Vermögen um Klubgüter im Eigentum der Staatsbürger.

Die Vorstellung, der Zugang zu den öffentlichen Klubgütern müsse Ausländern jedweder Herkunft unbeschränkt zustehen, ist aus ökonomischer und staatsrechtlicher Sicht abwegig und trägt zum weiteren Staatsverfall bei.

So ist es nicht verwunderlich, dass die Rivalität zwischen Zuwanderern und Einheimischen für die Endlichkeit unserer Ressourcen verantwortlich ist, wie Wohnraum, staatliche und öffentliche Strukturen, Sozialsysteme usw., auf die die Mittelschicht und die untere Mittelschicht, im Gegensatz zur Oberschicht, besonders angewiesen sind.

Millionen Zuwanderer erzeugen einen permanenten Druck auf den Wohnungsmarkt. Wohnraum in den Ballungszentren mit ihren Arbeitsplätzen, wird immer unerschwinglicher. Selbst gutverdienende Angehörige der Mittelschicht, vor allem Familien mit Kindern, suchen in den Ballungsräumen verzweifelt und meist vergeblich eine bezahlbare Wohnung. So wird die Mittelschicht immer mehr aus den Ballungszentren verdrängt und fördert so das Wachstum der peripheren" bzw. „periurbanen" Welt (Pendlergemeinde) mit all ihren Nachteilen.

Die Mittelschicht und die untere Mittelschicht sind daher die eindeutigen Verlierer von Globalisierung und Zuwanderung.

Die Oberschicht dagegen verfügt über die Mittel, unsichtbare Grenzen zu ziehen und sich in ihren Wohnvierteln, Schulen und Karrieren abzuschotten, während sie das Ideal der offenen Gesellschaft propagiere. „Die offenen Gesellschaften", sagt Guilluy, „sind die größten Fake News der letzten Jahrzehnte. Es gibt keine Open Society, es gibt im Gegenteil immer stärker abgeschirmte Welten. Paris begreift sich als offene Stadt, aber eine Stadt, in der der Quadratmeter bis zu 10.000 Euro kostet, ist keine offene, sondern eine geschlossene Stadt. Bei einem Einkommen von 1.000 Euro im Monat funktioniert der Multikulturalismus nicht."

In Frankreich konzentriert sich fast die Hälfte der Arbeitsplätze in einem Dutzend Metropolen, davon 22% allein im Großraum Paris. Mittlere und kleine Städte sowie entlegene Regionen verlieren Arbeitsplätze. Das ist neu. Viele Jahrzehnte lang kam das Wirtschaftswachstum der Gesamtheit des Landes zugute.

Die politische Herausforderung wird deshalb darin bestehen, das eigene ansässige Volk zu integrieren, statt unentwegt über die Notwendigkeit der Integration von Zuwanderern zu reden. Ohne die eine ist auch die andere Seite zum Scheitern verurteilt. „Ich glaube, es ist das Problem der westlichen Demokratien und der westlichen Eliten, dass sie das eigene Volk vergessen haben", sagt Guilluy.Darin besteht der Verrat."

Die Brexiters, die Trump-Anhänger, die AfD-Wähler, die Gelbwesten, die Gefolgschaft der Lega Nord - sie alle haben ihre Gründe, berechtigte oder nicht, und in der Demokratie einen Anspruch, dass diese gehört, berücksichtigt und debattiert statt tabuisiert werden. Das bedeutet nicht, liberale Grundsätze aufzugeben, auch nicht, dass die enorme Liberalisierung der Gesellschaft seit Mitte der Sechzigerjahre gestoppt oder gar rückgängig gemacht werden soll.

Um das zu erreichen, muss zuerst mit der Wiederherstellung des politischen Vertrauens begonnen werden. Und das bedeutet, ganz einfach, sich zuerst um die Belange der eigenen Staatsbürger zu kümmern, denn sie sind in der Demokratie der Souverän. Noch könnte in Deutschland Zeit genug sein, sich aus zerstörerischen Gruppendynamiken zu lösen und wechselseitige Hetze und Verachtung durch Achtungs-, Denk-, Sprech- und Zuhörleistungen zu überwinden. Diese Debatte müssen wir als Deutsche und Europäer führen. So hat es auch der Bundespräsident sinngemäß in seiner Weihnachtsansprache 2018 gesagt.

Die gelben Westen haben vorgeführt, wie schnell und verheerend die Gewalt auf den Straßen einziehen und die Paläste bedrohen kann. Die Rückkehr zu den Grundlagen des Gemeinwesens, dem allgemeinen Anstand oder des anständigen Populismus ist keine Hypothese, sondern eine Notwendigkeit, wenn man den Bürgerkrieg vermeiden will, den man zu fürchten vorgibt und den man doch heraufbeschwört.

Im 21. Jahrhundert müssen die Eliten und die politischen Repräsentanten endlich wieder lernen, mit ihrem Volk zusammenzuleben. Haben die Gelbwesten den Anfang gemacht? Die Frage bleibt unbeantwortet, noch.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Armut – eine Gefahr für die Demokratie – 30. Dezember 2023

Das Grün-Linke Vermögens-Vernichtungsprogramm – 20. Oktober 2023

Kampf der Kulturen in Deutschland und Europa - am 29. Februar 2024