Aktuelle Lage der Euro- und Staatsschuldenkrise am 30. September 2019

Viagra für Zombies: Wie die Wirtschaft zombifiziert und die Gesellschaft gespalten wird –

Sehenden Auges sind die Zentralbanken in ihrem Kampf gegen die Folgen der großen Finanzkrise und der Schuldenkrise in die Falle getappt – die Nullzinsfalle. Im Augenblick versuchen die Zentralbanken verzweifelt, aus dieser Falle zu entkommen, doch es wird ihnen nicht gelingen. Denn bereits bei den ersten Schritten der geldpolitischen Normalisierung wird kein Stein auf dem anderen bleiben.

EZB-Chef Mario Draghi setzte den Rahmen, Ökonomen lieferten die Argumente – für ein schuldenfrohes Deutschland im Zeichen der Rezessionsangst. Der Nullzins bestimmt die Politik. Zum Wohl des Staates und der Vermögenden. Und mit verheerenden Folgen für Sparer, Banken, Unternehmen – und die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft.

Im Oktober 2019 tritt Mario Draghi planmäßig als Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) ab. Dann endet seine Amtszeit - und sie endet wohl so, wie sie vor acht Jahren begonnen hat: mit der Zuspitzung eines ökonomischen Feldversuchs, wie es ihn „in der Geschichte der Menschheit noch nicht gegeben hat", so David Folkerts­Landau, Chefvolkswirt der Deutschen Bank.

Gestartet war der Versuch 2011, inmitten der Euro-Krise, als Finanznothelfer Draghi die Geldbeschaffungskosten für Banken drückte, um den Kollaps einer Weltwirtschaft zu verhindern, in der kredithungrige Staaten und Finanzmärkte sich wechselseitig ruinierten. Heute, nach neun Jahren des starken Wachstums in Europa und nahezu bei Vollbeschäftigung, ist Chefkurspfleger Draghi einen entscheidenden Schritt weiter: Seine Mittel sind erschöpft; das geldpolitisches Paradigma der EZB lässt sich nicht halten - aber anstatt  es zu ändern, treibt Draghi es über seine Grenzen hinaus.

Die Auswirkungen sind seit Jahren zu spüren. Viele Banken haben Kontoführungsgebühren eingeführt, Filialen werden geschlossen, Bankautomaten abgebaut, der Service eingedampft und Fusionen finden statt. Zuletzt sogar zwischen einer Sparkasse und einer Volksbank! Und jetzt hat Draghi uns ein bitteres Abschiedsgeschenk bzw. seiner Nachfolgerin Christine Lagarde ein Willkommensgeschenk gemacht. Er hat den Einlagenzins abermals gesenkt auf minus 0,5 Prozent, und ab November beginnt das neue Aufkaufprogramm im Volumen von 20 Milliarden Euro pro Monat. Das letzte Aufkaufprogramm hatte ein Volumen von 2,59 Billionen Euro und wurde erst Ende 2018 beendet. Keine neun Monate später sieht man sich schon wieder gezwungen, ein neues Programm zu starten. Gut möglich, dass die EZB sogar Aktien kauft, so wie die Notenbank in Japan - zur Freude der Aktionäre. Wie viele Beweise benötigen unsere Politiker noch für die Einsicht, dass der Euro sterbenskrank ist?

Ab dem 1. November wird die EZB dann, unter ihrer neuen Herrscherin Christine Lagarde, mit per Computer selbst erschaffenem Geld noch mehr Anleihen von faktisch bankrotten Staaten wie beispielsweise Italien oder Griechenland sowie Anleihen von sogenannten Zombie-Unternehmen, welche längst pleite sein müssten, kaufen. Kurzum, die EZB wird alles unternehmen, um die Insolvenzverschleppung weiter voranzutreiben und das zum Scheitern verurteilte Währungsexperiment Euro am Leben zu erhalten.

Zehn Jahre lang hat die EZB die Wirtschaft mit Niedrig- und Nullzinsen gestützt - und dabei den Finanzsektor ruiniert. Die Banken zahlen Strafzinsen für parkendes Geld, ihre Zinsmargen schrumpfen, ihre Kreditvergabe stockt - also wird noch mehr Geld gedruckt.  Die Sparer in Europa verlieren nach Berechnungen der Deutschen Bank jährlich 160 Milliarden Euro - Geld, das den Staaten, ihren Schuldnern, zugutekommt. Und jetzt, trotz aller geldpolitischen Belebungsversuche, schwächelt auch noch die Konjunktur in Deutschland: Die Wirtschaft schrumpft  (minus  0,1% zum Vorquartal), die Industrieproduktion bricht ein (minus 5,2 Prozent zum Vorjahr), der Export lahmt (minus acht Prozent zum Vorjahr); Konzerne geben Gewinnwarnungen raus, ihre  Personalabteilungen schmelzen Überstunden ab - die Stimmung schlägt um.

Also läutet Draghi die zweite Nullzins­Dekade ein, koste es, was es wolle. Er weiß, dass Europa nach zehn Jahren eines geldpolitisch induzierten Scheinbooms abhängiger denn je ist vom billigen Geld - und weil die Kraft zu einem Paradigmenwechsel fehlt, reizt er das Nullzins-Regime so lange aus, wie es eben geht: Geldpolitik am Rande des Zusammenbruchs. Während die Deutschen bisher davon ausgingen, die EZB werde die Zinsen Schritt für Schritt wieder anheben, müssen Unternehmer, Banker und Anleger jetzt mit einer dauerhaften Ausschaltung des Zinsmechanismus und seiner Preissignale rechnen. Bis die Quittung kommt.

Die Folgen sind dramatisch. Draghi stellt die Grundlagen des Wirtschaftens endgültig auf den Kopf. Der Nullzins prämiert Schuldner, nicht Gläubiger - den Konsum, nicht die Produktivität. Er hilft Staaten, ihre Verbindlichkeiten zu reduzieren, und vergrößert die Ausfallrisiken der Staatsbürger, die ihr Geld für nichts und wieder nichts in Schuldverschreibungen parken. Er treibt die Vermögenspreise (Immobilien, Aktien) und enteignet Kleinsparer (Lebensversicherungen, Sparbuch), schürt verteilungspolitische Konflikte, düngt die Ungleichheit und die Ausgabenlust.

Aus Furcht vor den sozialen Folgen einer Markt- und Preisbereinigung - genau die fände statt in einer Rezession - treten mit Draghi jetzt auch Politiker und Ökonomen die Flucht nach vorn an. Sie bereiten das Ende der schwarzen Null und der Schuldenbremse auf der Basis verzerrter Geldpreise vor und beschwören großzügige Ausgabenprogramme. Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) überlegt, 50 Milliarden Euro für Konjunkturhilfen lockerzumachen - auf Pump, versteht sich, denn mit einer
Krisenanleihe kann Scholz sogar Geld verdienen: Bei Renditen von minus 0,7 Prozent für zehnjährige Bundesanleihen schenken Anleger dem Staat Geld, damit sie ihm etwas borgen dürfen. Kein Wunder, dass auch Michael Hüther, Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), findet: „Die Bedingungen sind sehr gut, die Zinsen niedrig, jetzt haben wir den Spielraum." Die Regierung müsse dringend in Digitalisierung, Klimaschutz, Infrastruktur, kurz: in einen „Deutschlandfonds" investieren, 450 Milliarden Euro in zehn Jahren - denn dank des Nullzinses würden „künftigen Generationen keine zusätzlichen Lasten aufgebürdet".

Keine Frage: Der Nullzins wird die Wirtschaftspolitik auf Jahre bestimmen - und zugleich unser Leben stärker prägen als so mancher Regierungswechsel Und die Trennung, die jetzt schon ihren Anfang genommen hat, wird sich weiter verschärfen: in viele Verlierer und wenige Profiteure.

Der Zins hat seine Signal- und Steuerungsfunktion verloren. Er zeigt nicht mehr an, wie riskant eine Investition ist. So bekommen auch Zombie-Unternehmen noch viel zu lange Geld. Sie werden durchgeschleppt, bis die Rezession ihnen den Rest gibt.


Der Euro zerstört Europa, unseren Wohlstand und unsere Banken


Fakt ist: Der Euro trennt Europa, anstatt es zu einen. Der Euro ist viel zu schwach für Deutschland und viel zu stark für die Länder Südeuropas. Damit die Länder Südeuropas wieder Wettbewerbsfähigkeit erlangen können, müssten sie ihre eigenen Währungen kräftig abwerten können. Dies ist im Zins- und Währungskorsett der Eurozone jedoch unmöglich. Folglich werden die Länder Südeuropas unter dem Euro volkswirtschaftlich niemals auf die Beine kommen. Es ist also vollkommen egal, wie viel Geld noch von Nord- in Richtung Südeuropa transferiert wird.

Der Euro ist alles andere als eine stabile Währung. Seit seiner Einführung hat er bereits 30 Prozent seiner Kaufkraft verloren. Auf Grund der Niedrigzinsphase bluten nicht nur Sparbuchbesitzer, Lebensversicherer, sondern auch Kranken-, Renten- und Pensionskassen.


Altersvorsorge am Limit

Sparer spüren die Wohlstandserosion schon längst. Rechnet man die Zinsverluste der vergangenen zehn Jahre (Sparkonten, Lebensversicherungen) gegen die Zinsersparnis bei Krediten auf, ergibt sich nach Berechnungen der DZ Bank ein Nettozinsverlust von 358 Milliarden Euro. Die Staatshaushalte in der Euro-Zone hingegen haben nach Berechnungen der Bundesbank zugleich 1,42 Billionen Euro eingespart. Es ist eine gigantische Umverteilung zugunsten der Staaten - und zulasten der Bürger.

Die Folgen der EZB-Politik sind schwerwiegend. Wer spart wird bestraft. Wer Schulden macht wird belohnt. Sollten die Menschen in Deutschland tatsächlich anfangen, nicht nur ihr Erspartes zu verkonsumieren, sondern auch noch Schulden zu machen und folglich nichts mehr für das Alter zurückzulegen, dann wird eine Altersarmutswelle auf uns zukommen, die jegliche Vorstellungskraft übersteigt. Wer das in Kauf nimmt, um den zum Scheitern verurteilten Euro am Leben zu erhalten, der handelt nicht nur unvorstellbar unverantwortlich, sondern hochgradig unsozial.

Die Probleme der Sparer, das sind die an der Oberfläche. Mindestens ebenso gravierend sind Institutionen getroffen, die private Altersvorsorge regeln: Versicherungen, Pensionskassen, Versorgungswerke. 84 Millionen Lebensversicherungsverträge haben die Deutschen, und Versicherer setzen zu mehr als vier Fünfteln auf Zinspapiere. Die sichere, sich selbst tragende Altersvorsorge, sie ist deshalb in diesem Jahrhundert verloren gegangen. Weltweit werfen jetzt Anleihen und Schuldverschreibungen über umgerechnet rund 15 Billionen Dollar eine negative Rendite ab. Bei Bundesanleihen etwa zahlen Investoren über alle Laufzeiten hinweg drauf. Die Geschwindigkeit des Zinsverfalls gefährdet Pensionäre - und das wird ihnen langsam beigebracht. Mit „Annus horribilis" (schreckliches Jahr) hat das Altersversorgungswerk der Zahnärztekammer Niedersachsen ihr jährliches Periodikum an die Mitglieder übertitelt.

Andere wagen sich noch nicht so weit vor. Da ist der Vorstand einer Pensionskasse. Knapp drei Prozent Rendite braucht er, um Verpflichtungen gegenüber Pensionären erfüllen zu können. Im April, da ging noch etwas, sagt er, hier mal ein Bond für 2,3%, da mal einer für 2,5%. Im Juli schon fanden seine Anlagemanager nur noch Papiere, die sichere 1,5 oder 1,6% versprechen - rund die Hälfte dessen, was eigentlich herauskommen müsste. Inzwischen, nur drei, vier Wochen später, rentieren solche Anlagen unter einem Prozent.

Noch ist die Zahl derer, die sich in großen Schwierigkeiten befinden, überschaubar. Die Kölner Pensionskasse und die Pensionskasse der Caritas melden Probleme, ebenso die Pensionskasse der Steuerberater. Und Konzerne - Daimler, Siemens, Deutsche Post - mussten Milliarden für die Altersvorsorge ihrer Mitarbeiter nachschießen.


Aktien- und Immobilienpreise werden weiter nach oben getrieben

Mehr denn je werden die Banken gezwungen sein, noch großzügiger bei der Kreditvergabe zu sein. Folglich werden sich noch mehr Bürger vollkommen überteuerte Immobilien kaufen, die sie sich überhaupt nicht leisten können, mit Geld, das sie eigentlich gar nicht haben und auch niemals bekommen dürften. Die Preise für Eigentumswohnungen haben sich bereits in den sieben größten Städten seit 2009 beinahe verdoppelt. Dieser Trend wird weiterhin anhalten, bis die Blase platzt.

Die gravierenden Folgen einer geplatzten Immobilienblase mussten viele Menschen insbesondere in den USA, Irland, Spanien und anderen Ländern am eigenen Leibe erfahren. Parteien, die sich einerseits über explodierende Mieten beschweren und den Mietpreisdeckel fordern und andererseits den Euro unterstützen, haben jegliche Glaubwürdigkeit verloren. Böse Zungen würden diese sogar als Heuchler bezeichnen.

Auch an den Aktienmärkten sorgt das viele billige Geld für eine noch größere Blase. Die ETF-Fonds haben sich seit der Finanzkrise sogar verfünfeinhalbfacht (von 716 Milliarden auf über 4,68 Billionen Dollar). Das Platzen der Blase an den Aktienmärkten wird 2009 bei weitem in den Schatten stellen.

Die großen Gewinner der Geldschwemme aber sind die Besitzer von Sachvermögen, vor allem von Aktien und Immobilien. Ihr Vermögen ist kräftig gestiegen - und mit ihm die Ungleichheit der Vermögensverhältnisse. Die Zentralbanken sägen mit der Manipulation des Geldpreises an dem Ast, auf dem die Wohlfahrtsdemokratie der westlichen Welt sitzt - ein perfektes Förderprogramm für den Populismus.

Tatsächlich fräst sich die preismanipulierende Nullzins-Politik wie eine soziale Demarkationslinie durch die Gesellschaft. Die (Super-)Reichen werden immer reicher. Für Geringverdiener ohne Vermögen ändert sich kaum etwas, weil der Staat laufend neue Ausgleichszahlungen beschließt: mehr Wohn­ und Kindergeld, weniger Sozialbeiträge, Entlastung bei den Kitakosten, demnächst vielleicht eine Klimaprämie. Steuergeld ist vorhanden, und wenn es nicht reicht: Verschuldung kostet nichts.

In den Großstädten hat sich der Abstand zwischen Eigentümern und Mietern fast uneinholbar vergrößert: Wer hat, dem wird gegeben; wer nicht hat, dem wird genommen.


Risikokapital für Reiche

Mindestens genauso auskömmlich ist ein Investment in Produktivkapital. Und je mehr ein Investor hinlegen kann - sei es aus vorhandenem Geld von wo auch immer, sei es aus günstig geliehenem, desto lukrativer kann es werden. Reiche, die unternehmerisch investieren, kennen kein Nullzins-Problem. Zum Beispiel die Kunden von Jan Borgstädt und Join Capital. Wer hier in Berlin-Mitte anklopft, muss 200.000 Euro mitbringen, mindestens, die Summe zehn Jahre entbehren - und bekommt dafür Ende 2029 das Vierfache ausgezahlt. Macht rund 15% Rendite pro anno, so jedenfalls das Versprechen.

Borgstädt, ein hochgewachsener Betriebswirt, hat acht Jahre im Venture-Team von Bertelsmann gearbeitet, 2015 Join Capital gegründet und eine Art Fonds auf der Basis des Win-win-Prinzips aufgelegt. Die Idee: Join sammelt 50 Millionen Euro von 40 Venture-Kapitalisten, Family Offices, Mittelständlern und institutionellen Anlegern ein - und beteiligt sich über Kapitalerhöhungen an 15 europäischen Start-ups, von deren Technologie die investierenden Firmen mittelfristig profitieren. Damit der Ehrgeiz der Fondsmanager nicht nachlässt, sind auch Borgstädt und seine beiden Partner mit einer Million Euro beteiligt.

Es ist ein Konzept, das etwa die Manager Carl-Peter Forster (ehemals Opel), Matthias Hartmann (IBM Deutschland) und Ottmar Gast (ehemals Reederei Hamburg Süd) überzeugt. Sie vertrauen den acht Mitarbeitern von Join Capital: als Maklern ihres Geldes und als Mentoren der Gründer, etwa von German Bionie (Exoskelette) oder Flexciton (KI-optimierte Produktionsprozesse). Borgstädt ist fasziniert von der Professionalisierung des Unternehmerischen Investierens in Deutschland und rechnet fest mit einer Fortsetzung des Booms. Immobilien und Aktien seien ziemlich „ausgemaxt", die Preise auf dem Venture-Capital-Markt noch „ziemlich frei verhandelbar". Und das Risiko sei begrenzt, solange man wechselseitige Interessen miteinander vernetze.

Alles halb so schlimm also? Joachim Fels, Berater des Vermögensverwalters Pimco, glaubt, die Zentralbanker seien „nicht die Täter, sondern die Opfer tieferer fundamentaler Triebkräfte, die hinter den negativen Zinsen stecken". Die zunehmende Lebenserwartung der Babyboomer veranlasse diese, mehr zu sparen. Unternehmen benötigten wegen der sinkenden Kosten für neue Technologien weniger Kapital. Daraus resultiere eine Ersparnisflut, die „den natürlichen Zins tiefer und   tiefer nach unten drückt", so Fels.

Die Ökonomen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) sehen die Hauptursache dagegen im Vorgehen der Notenbanken: Sie haben in jedem Abschwung die Zinsen kräftig gesenkt. Und sie im Aufschwung nicht wieder auf das frühere Niveau zurückgeführt - aus Rücksicht auf die Schuldner. So sind die Zinsen gepurzelt und haben uns die Notenbanken geführt „in eine Welt, die noch nie so hoch verschuldet war wie heute und diese Schuldenlast nur tragen kann, wenn sie fast nichts kostet", so der Ökonom Daniel Stelter.

Bleibt die Frage, ob es eine Lösung gibt, einen Ausweg aus der Nullzins-Falle. Ein Schuldenschnitt? Greifen die Gesetze der Marktwirtschaft plötzlich, würden die Banken mit all ihren Staatspapieren wie tote Fliegen von der Wand fallen. Weiter wie bisher? Drehen die Zinsen ins Minus, müssten die Notenbanken den Bürgern die Flucht ins Bargeld versperren, die Welt mit gratis verteiltem Helikoptergeld inflationieren - die Geldkrise lösen, indem sie sie verschärfen.

Also kaufen die Notenbanken, die schon jetzt einen Großteil der Staatsanleihen in ihren Bilanzen halten (EZB: 30%, Bank von Japan: 50%) noch mehr Schulden auf - und gewähren den Regierungen ein unbefristetes Zins­ und Tilgungsmoratorium.

Faktisch wäre das der Erlass aller Staatsschulden, eine sanfte Insolvenz der bestehenden Geldordnung, eine Stunde null des Kapitalismus. Die Hoffnung: ein Wiederaufbau der Ordnung auf der Basis gesunder Zinsen, des Preises aller Preise.
 
Kann das gut gehen? Kurzfristig vielleicht. Mittelfristig dürften alle Hemmungen, sich zu verschulden, schwinden - mit Blick auf den nächsten Schuldenerlass.

Europa braucht eine Geldpolitik, die die Voraussetzungen für Wachstum schafft. Und in diesem Punkt ging schon die Rechnung von Mario Draghi nicht auf. Stets betonte er, dass mit der Nullzinsstrategie der Politik Zeit für Strukturreformen gegeben würde. Passiert ist wenig. Statt Arbeitsmärkte, Rechts-, Sozial- und Steuersysteme wettbewerbsfähig zu machen, machte das billige Geld „Untätigkeit zur kurzfristigen attraktiveren Option", schieb der Chefökonom der Deutschen Bank David Folkerts-Landau schon vor drei Jahren. Die EZB habe die Disziplinierungsmaßnahmen steigender Zinsen außer Kraft gesetzt.

Daran wird sich nichts ändern. Schon gar nicht, wenn die Rezessionsangst um sich greift. Frau Lagarde hat bereits angekündigt, dass die Untergrenze der Negativzinsen noch nicht erreicht sei. Damit liefert sie genau das, was ihre Förderer wie etwa Staatspräsident Emmanuel Macron von ihr erwarten. Die Refinanzierungskosten für den Staat sollen weiter sinken. Negativrenditen bei Anleihen der öffentlichen Hand sind bereits heute normal. Draghi war der Sterbebegleiter des politischen Reformeifers. Lagarde dürfte die Totengräberin sein.


Flucht ins Dunkle

In den Industriestaaten verschwinden Unternehmen reihenweise von der Börse. Dank des billigen Geldes der Notenbanken gehen intransparente Finanzinvestoren auf Einkaufstour. Die Finanzmärkte verlieren zunehmend ihre Funktion als öffentliche Marktplätze.

Feststeht: Private Equity und übernahmewillige Konzerne bekommen billiges Geld von den Notenbanken hinterhergeworfen; sie kaufen sich die profitabelsten Firmen – und sie mehren, kontrolliert von niemanden, ihr Vermögen: auf Kosten klassischer Aktionäre und Anleger.

Finanzinvestoren haben 2018 rund 227 Mrd. Dollar ausgegeben, um Unternehmen von der Börse wegzukaufen. Hinzu kommen Großunternehmen, die sich Konkurrenten einverleiben oder fusionieren. Die Bedeutung der Börse dagegen: mickrig. Keine zehn Mrd. Euro sammelten Unternehmen auf dem deutschen Parkett im ersten Halbjahr 2019 über Kapitalerhöhungen oder Börsengänge ein.

Der Public-to-Private-Trend, raus aus der Öffentlichkeit und rein ins Privatkapital, ist nicht nur ein Problem für Anleger. Sondern er markiert auch einen Bruch mit der Shareholdervalue-Doktrin und einen Gezeitenwechsel in der Geldwirtschaft.

Nicht jede Firma, die von der Börse genommen wird, ist ein Verlust für Anleger. Doch ausgerechnet die mittelgroßen, renditestarken, für Anleger besonders interessante Unternehmen gehen oft auf in anderen Unternehmen, oder sie wandern in die Portfolios von Private Equity. Die Liste ist lang, und sie wächst seit 20 Jahren.

Besonders attraktiv ist das Delisting, seit die Zinsen buchstäblich ins Bodenlose fallen. Vor 20 Jahren kostete ein Mittelständler-Darlehen fast 10% Jahreszins; für riskante Anleihen zur Finanzierung von Übernahmen zahlten Emittenten ähnlich viel. Inzwischen kosten riskante Kredite nur noch ein Fünftel oder ein Zehntel – das erleichtert es Unternehmen sich außerhalb der Börse zu finanzieren: bei Banken oder Private-Equity-Firmen.

Der Geldtisch ist reich gedeckt wie nie für den deutschen Mittelstand. Der Markt für Schuldscheine – private Darlehen, die Unternehmen bei Vermögenden platzieren – soll dieses Jahr auf 25 Mrd. Euro wachsen; 2010 war er erst 5 Mrd. Euro schwer.  Rasant wachsen auch sogenannte Debt-Fonds; die Unternehmensschulden finanzieren: Von 2009 bis 2018 hat sich deren Volumen auf 769 Mrd. Dollar fast verdreifacht. Und Finanzinvestoren wissen kaum, wohin mit dem Geld.

Während Risikokapital für junge Unternehmen einen starken Einbruch erlebt, geben institutionelle Investoren – Versicherer und Pensionsfonds – großzügig Geld aus für den Aufkauf etablierter Firmen. Darauf spezialisierte Buy-out-Fonds warben dieses Jahr nach jüngsten Zahlen zum ersten Quartal bereits ein Fünftel mehr Geld ein als im Vorjahreszeitraum.

Knapp die Hälfte des von Anlegern eingesammelten Kapitals, 1,26 Billion Dollar, haben die Fonds dabei noch gar nicht eingesetzt. Das heißt: Weil Private Equity im Durchschnitt seinen Eigenkapitaleinsatz mit Krediten wenigstens noch einmal verdoppelt, haben Finanzinvestoren derzeit 2,5 Billionen Dollar für Ankäufe locker. Allein die Buy-out-Fonds sitzen auf 700 Mrd. Dollar Cash – plus Kredite wäre das theoretisch genug Geld, um fast alle deutschen börsennotierten Unternehmen kaufen zu können.

Deutschland zählt aufgrund seiner politischen Stabilität, seiner zahlreichen Weltmarktführer und Nischenspezialisten zu den bevorzugten Ländern der Equity-Branche. Sie investierte viel, 2018 allein 23 Mrd. Dollar – oft unbemerkt. Z. B. Die Danaher Group aus den USA verleibte sich etwa 2004 in Biberach an der Riß mit KaVo einen der weltweit führenden Zahnmedizintechniker ein – wer hat das außerhalb von Oberschwaben bis heute mitbekommen?

Durch das Delisting verliert die Börse immer mehr die Funktion als Frühindikator der Konjunktur, als Barometer der Stimmung, als Umschlagplatz der Erwartungen. Mit jeder Hauptversammlung geht der Wirtschaft ein Stück Öffentlichkeit verloren. Und der Gesellschaft ein Stück Demokratie und Eigentumskultur. Privat-Equity interessiert sich nicht für eine Mitarbeiterbeteiligung via Aktie. Und Unternehmen, die ihren Berichts- und Bilanzpflichten enthoben sind, müssen sich keinem Kleinanleger gegenüber rechtfertigen.

Liegen Analysten wie die der Beratungsgesellschaft Mackewitz&Partner richtig, haben Finanzinvestoren in sechs Jahren weltweit 7,5 bis 10 Billionen Dollar unter Kontrolle. Der Trend wird sich also noch einmal verschärfen – Privat Equity kauft gute Unternehmen weg. Hält das Tempo an, würden in einer Generation nur noch Aktien an der Börse gehandelt, die sonst keiner haben will. Und aus dem Marktplatz wäre ein Schrottplatz geworden.
 

Drastische Negativzinsen, Aufkauf von Aktien und Bankenunion werden kommen

Anstatt das Währungsexperiment Euro zu beenden, müssen wir uns auf weitere drakonische Maßnahmen gefasst machen. Die EZB und die EU werden alles unternehmen, um den Euro um jeden Preis so lange wie möglich am Leben zu erhalten und ihr eigenes Scheitern soweit wie möglich in die Zukunft hinauszuschieben. Es ist lediglich eine Frage der Zeit, bis die Zinsen kontinuierlich weiter gesenkt werden und die Aufkaufprogramme weiter nach oben gefahren werden. Sogar ein Negativzinssatz von minus 5 Prozent ist denkbar. Dies ist jedoch nur möglich, wenn Bargeld massiv begrenzt wird. Bargeldabhebungsbeschränkungen werden die Folge sein. Mit Sicherheit wird das Aufkaufprogramm weiter nach oben gefahren. Die EZB wird zukünftig nicht nur Anleihen, sondern so wie die Schweizer Nationalbank (SNB) auch noch Aktien kaufen.

Die SNB besitzt mittlerweile Aktien von 6.600 Unternehmen. Allein der Wert des Bestands an US-Aktien beläuft sich auf knapp 90 Milliarden Dollar. Spätestens dann sind dem Wahnsinn Tor und Tür geöffnet und wir leben endgültig im Zeitalter der Planwirtschaft der Notenbanken. Ferner wird die deutsche Politik die Bankenunion in Zukunft nicht mehr aufhalten können. Die Nordländer haben keine Mehrheit im EZB-Rat. Dies bedeutet, dass wir Sparer in Zukunft auch für die maroden Banken Südeuropas haften werden. Spätestens dann ist es unabdingbar, sein Erspartes von der Bank zu nehmen. Vorausgesetzt, dass dies zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch möglich sein sollte.

Meine Prognosen:

  • Sobald die Rezession in der Eurozone voll einschlägt, werden die Zinsen weiter erheblich gesenkt
  • die Aufkaufprogramme werden drastisch nach oben gefahren
  • die Target2 Verbindlichkeiten Deutschlands werden die eine Billionenmarke reißen
  • Immer mehr Banken werden in Europa von der Bildfläche verschwinden und die Großbanken Europas werden vollkommen den Anschluss an die Weltspitze verlieren
  • die Finanzmarktblasen werden weiter aufgepumpt - Aktien, Anleihen, ETFs und Immobilien
Dexit langfristig weniger teuer

Offenkundig wird bis zum bitteren Ende am Euro festgehalten. Wie lange wird es noch dauern, bis die Politiker erkennen, dass das Währungsexperiment Euro zum Scheitern verurteilt ist? Eine zweite Rezession wird der Euro nicht überleben und die EZB nicht auffangen können. Wann werden die Politiker endlich erkennen, dass der Euro Europa trennt, anstatt es zu einen? Wie lange wird die volkswirtschaftliche Schadensmaximierung noch vorangetrieben? Wann wird sich die Erkenntnis durchsetzen, dass der Dexit (Austritt Deutschlands aus der Euro-Zone) aus der Eurozone die langfristig definitiv weniger teure Lösung sein wird?

Es ist jetzt an der Zeit, den Euro kontrolliert abzuwickeln, denn kollabiert der Euro unkontrolliert, werden die Kosten - gesellschaftlich wie monetär - um ein Vielfaches höher. Zweifellos wird uns ein Dexit viele eisenharte und verlorene Jahre bescheren.

Ein unkontrollierter Zusammenbruch der Eurozone jedoch Chaos und weit mehr als eine verlorene Dekade. Es ist an der Zeit, der Realität ins Auge zu blicken und noch größeren Schaden von Deutschland und Europa abzuwenden. Wie lange werden die Bürger dieses Landes das Experiment Euro noch mittragen, oder besser gesagt: Wie lange sind sie noch gewillt, für den Irrsinn zu bezahlen?


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Armut – eine Gefahr für die Demokratie – 30. Dezember 2023

Das Grün-Linke Vermögens-Vernichtungsprogramm – 20. Oktober 2023

Kampf der Kulturen in Deutschland und Europa - am 29. Februar 2024