Der Menschenschwund in Russland – 31. Januar 2025
Der Menschenschwund in Russland und weltweit –
In der Welt von morgen wird Russland ein territorialer Riese und ein demografischer Zwerg sein. Der Menschenschwund in Russland ist ein Albtraum für Wladimir Putin. Die Hauptursachen der Misere: Alkoholismus, Kriminalität und vor allem die mangelhafte medizinische Versorgung. Dazu kommt der Krieg gegen die Ukraine. Der Konflikt hat nicht nur zu zahlreichen Kriegstoten geführt, sondern auch zur Flucht vor dem Krieg von ca. 0,8 Mio. Menschen.
Die Gesamtbevölkerung in Russland hat im Jahr 2023 geschätzt rund 145,4 Mio. Einwohner betragen. Für das Jahr 2024 wird die Gesamtbevölkerung in Russland auf rund 144,8 Mio. Einwohner prognostiziert. Laut Prognosen der UN soll die Gesamtbevölkerung bis 2050 kontinuierlich sinken und im Jahr 2050 geschätzt rund 136,1 Mio. Einwohner betragen, was einen gesamtheitlichen Rückgang um rund 9,3 Mio. Einwohner seit 2023 bedeuten würde. Die Lebenserwartung ist leicht gestiegen, liegt mit rund 63 Jahren bei Männern aber immer noch näher an Entwicklungsländern als an westlichen Industrienationen. Frauen werden im Schnitt 13 Jahre älter als Männer, in keinem anderen Land ist die Differenz zwischen den Geschlechtern größer.
Ein Ziel des Ukraine-Krieges dürfte sein, die Nation mit slawischem Blut aufzufrischen. Doch Russland ist kein Einzelfall. Die Geburtenraten sind global auf Rekordtiefe, und sie sinken weiter. Das hat seine Vorteile, doch über die immensen Folgen wird kaum nachgedacht. Statt Eroberungskriege wird es in Zukunft Bevölkerungskriege geben.
Die Entvölkerung
Wir leben in einer seltsamen Zeit, einer Ära allgegenwärtiger und nicht enden wollender Entvölkerung. Die ist mit Kinderlosigkeit infiziert. 2015 war die Fruchtbarkeitsrate global nur noch halb so hoch wie 1965. Die meisten Menschen auf der Welt leben in Gesellschaften, in denen die Fruchtbarkeit unter dem Niveau des Bevölkerungserhalts bleibt. Und, wie der Wirtschaftswissenschafter Nicholas Eberstadt schreibt: „Die Menschen haben kein kollektives Gedächtnis für Entvölkerung." Der letzte Fall von massiver Entvölkerung, die Beulenpest, die in Eurasien wütete, ereignete sich vor 700 Jahren.
Doch dieses Mal bedroht keine grausame Seuche die Zukunft der Menschheit, sondern es sind die kulturellen Entscheidungen des Einzelnen, welche die Weichen stellen. Es sieht ganz so aus, als hätten die Menschen plötzlich die Lust an der Fortpflanzung verloren. Die rapide Entvölkerung kommt als Katastrophe daher, die in ein Geheimnis gehüllt ist. Es ist nicht leicht, zu erklären, warum die Fruchtbarkeit schwindet und die Bevölkerung zeitgleich in reichen und armen Staaten, in säkularen und religiösen Gesellschaften, in Demokratien und Autokratien schrumpft. 1994 lüftete der amerikanische Ökonom Lant Pritchett das Geheimnis, indem er den bisher aussagekräftigsten Indikator für die Geburtenrate entdeckte. Er lässt sich ganz einfach auf den Punkt bringen: Der entscheidende Faktor ist, was Frauen wollen. Pritchett stellte fest, dass weltweit die von Frauen gewünschte Zahl Kinder praktisch eins zu eins den nationalen Statistiken entsprach.
In seinem Buch „The Tragic Mind" behauptet der geopolitische Denker Robert Kaplan, dass „das Verständnis des Weltgeschehens an Landkarten und an Shakespeare hängt". Könnte es aber sein, dass ein Schlüssel zum Begreifen der heutigen Welt die demografischen Kurven sind? Liegt in der alarmierenden demografischen Entwicklung, ob real oder eingebildet, ein geheimer Grund dafür, warum Wladimir Putin den Krieg in der Ukraine begonnen hat und nach welchen Kriterien Wolodimir Selenski versuchen wird, ihn zu beenden?
Russland befindet sich im demografischen Niedergang, wie viele andere Länder auf dem Globus. Die Macht schwindet, die Führer fürchten den Abstieg – das macht sie noch gefährlicher.
Bis 2050 wird Russland rund ein Sechstel seiner Bevölkerung im erwerbs- und wehrfähigen Alter verlieren. Ähnlich geht es in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts weiter. Zusammengenommen wird Russland rund ein Viertel seiner aktiven Bevölkerung einbüßen, wie aus Projektionen der Vereinten Nationen hervorgeht, die vor Kriegsbeginn erstellt wurden. Dazu kommen noch die Kriegstoten von ca. 0,7 Mio. (Stand Ende 2024) und die vor der Einberufung Geflohenen von ca. 0,8 Mio.
Der Ukraine gehen die Menschen aus. Die Bevölkerung der Ukraine schwindet seit Langem. Putins Angriffskrieg hat die Lage stark verschlimmert. Schon vor dem russischen Überfall steckte die Ukraine in einer demografischen Krise. In den Sechzigerjahren begann die Bevölkerung zu altern. In den Neunzigern führte der Zusammenbruch der Sowjetunion zum wirtschaftlichen Kollaps. Millionen Frauen und Männer bangten um ihre Zukunft, sie bekamen weniger Kinder oder wanderten aus. Der russische Angriffskrieg machte aus der Bevölkerungskrise eine Katastrophe. Fast 7 Mio. Menschen, vor allem Frauen und Kinder, flohen ab Februar 2022 ins Ausland. Mindestens 5 Mio. Ukrainer leben heute unter russischer Besatzung, vom Rest des Landes getrennt durch Schützengräben und Minenfelder. Hinzu kommen Zehntausende tote Zivilisten und bis zu 100.000 gefallene Soldaten. In den frühen Neunzigern, zu Beginn ihrer Unabhängigkeit, hatte die Ukraine 51,5 Mio. Einwohner. Heute leben Schätzungen zufolge nur noch 29 Mio. Menschen auf dem von Kiew kotrollierten Staatsgebiet. Eine Einbuße von 22,5 Mio. Menschen.
2023 fehlten in Japan 40% für den Ersatz der Elterngeneration, in China über 50, in Südkorea erstaunliche 65%. Rasch schrumpft die Kopfzahl in China. Im Laufe dieses Jahrhunderts wird sich dort die Zahl der Menschen im Alter zwischen 15 und 64 Jahren nahezu halbieren. Wie in Russland, so schwindet der produktivere Teil der Bevölkerung auch dort bereits seit einigen Jahren, allerdings zunehmend schneller – eine Spätfolge der rigiden Ein-Kind-Politik früherer Jahrzehnte.
Die demografische Wende stellt alle betroffenen Länder vor enorme Herausforderungen, nicht nur Russland und China: Die Produktivität lahmt. Immer mehr Ressourcen müssen für Altersversorgung, Gesundheit und Pflege aufgewendet werden. Auch in Teilen der EU steht ein herber demografischer Abstieg bevor, zumal in östlichen Mitgliedstaaten. Nordamerika sagen die Uno-Experten ein weiterhin moderates Bevölkerungswachstum voraus. West- und Nordeuropa werden demografisch relativ stabil bleiben. Deutschlands Erwerbsbevölkerung immerhin hält sich seit Jahren auf hohem Niveau, dank Zuwanderung. Das sagt allerdings noch nichts über die Qualität der Zuwanderung aus.
Wider die Auslöschung
Die Umkehrung der negativen demografischen Entwicklung in Russland hat für Putin seit seinem Amtsantritt im Kreml höchste Priorität. Seit dem Ende der Sowjetunion hat Russland 17 Mio. Menschen verloren. Hinzu kommt, dass Russland das Land ist, das in Bezug auf die geschlechtsspezifische Sterblichkeit weltweit das größte Gefälle aufweist.
Es lohnt sich, darüber nachzudenken, ob Putins Entscheidung, in die Ukraine einzumarschieren, ein Eingeständnis des Scheiterns seiner Politik der Geburtenförderung war. Wie Nicholas Eberstadt anmerkt: „Das erfolgreichste Bevölkerungsprogramm des Kremls war die Annexion benachbarter Gebiete, nicht die Erhöhung der Geburtenrate." Durch die völkerrechtswidrige Eingliederung der Krim 2014 fügte Putin der Bevölkerung seines Landes etwa 2,4 Mio. ethnische Russen hinzu.
Die demografische Phantasie hat die ideologische Phantasie ersetzt. Die Auffassung, dass der Bevölkerungsrückgang eine Bedrohung darstellt, die einem totalen Krieg gleichkommt, sowie der Verdacht, dass der Bevölkerungsrückgang auf die kulturelle Subversion des Westens zurückzuführen ist, sind zwei charakteristische Merkmale von Putins politischem Denken. In diesem Zusammenhang ist der russische Krieg gegen die Ukraine eine besonders brutale Version dessen, was als „Aufstand gegen die Auslöschung" bezeichnet wird. Wie radikale Umweltaktivisten, die sich auf Bürgersteige kleben, hat sich Russlands Führer schockierend Taktiken zu eigen gemacht, um das abzuwehren, was er als die ultimative Katastrophe ansieht: die Auslöschung des russischen Volkes und seiner Kultur.
Die Sowjetunion verfolgte ein positives Zukunftsprojekt; heute hingegen haftet dem Blick des Kremls auf die Zukunft nichts Utopisches mehr an, sondern er ist ganz und gar von Angst beherrscht. Demografische Daten und Prognosen sind die Hauptantriebskräfte für Putins Bemühungen, die demografische Abwärtsspirale seines Landes aufzuhalten, indem er den Ukrainern eine eigene Heimat neben Russland vorenthält.
Man kann sich etwa vorstellen, wie Putin sich fühlte, als er sich mit Schätzungen der Uno konfrontiert sah, wonach die Bevölkerung Russlands im Jahr 2100 auf 74 bis 112 Mio. Menschen geschrumpft sein wird – ein erstaunlicher Rückgang von den derzeit 145 Mio.
Die demografische Phantasie hat die ideologische Phantasie ersetzt. Die demografische Phantasie bietet eine ganz andere Version der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts als die bisher vertraute. Sie weckt mehr Angst als Hoffnung. Und obwohl sich demografische Prognosen oft als falsch erweisen, prägen sie doch die Erwartungen.
Massenhafte Verschleppung von Kindern
In der Welt von morgen wird Russland ein territorialer Riese und ein demografischer Zwerg sein. Das ist es, was Putin verstanden hat. Russlands Bevölkerung wird nicht nur viel kleiner sein als die von China, Indien oder den USA, sondern auch halb so groß wie die von Brasilien und Äthiopien und ein Drittel so groß wie die nigerianische und die pakistanische. Für jemanden wie Putin, der die Größe der Bevölkerung in erster Linie als Sicherheitsproblem ansieht, bedeutet die demografische Schrumpfung einen unumkehrbaren Machtverlust. Wie er 2020 einmal erklärte, „hängen Russlands Schicksal und seine historischen Aussichten davon ab, wie zahlreich wir sein werden".
Waren die imperialistischen Kriege von gestern von der Furcht motiviert, dass die wachsende Bevölkerung nicht über ausreichende natürliche Ressourcen verfügen würde, und waren die europäischen Imperien von der schwarz-erdigen Ukraine als „Kornkammer Europas" angezogen, so wird Putins neoimperialistischer Krieg durch dessen Befürchtung genährt, dass in Russland zu wenige Menschen leben, um etwa die neuen Möglichkeiten der Erschließung und Förderung von Bodenschätzen in der Arktis aufgrund des Auftauens des Permafrostbodens zu nutzen. Die Landkriege des 20. Jahrhunderts sind von den Bevölkerungskriegen des 21. Jahrhunderts abgelöst worden.
Es ist bezeichnend, dass der Krieg in der Ukraine mit der massenhaften Entführung von Kindern, insbesondere von Waisenkindern, einherging, die nach Russland verschleppt und von russischen Eltern auf der Grundlage von im Eilverfahren erlassenen Rechtsvorschriften adoptiert wurden.
Diese „neugeborenen" Russen standen im Fokus der Art und Weise, wie Putin die Ziele seiner „besonderen militärischen Operation" definierte. Die Ukrainer sollten als „Reservearmee" künftiger Russen behandelt werden, die nicht allein die russische Bevölkerung vergrößern, sondern auch den zu erwartenden Rückgang des Einflusses der slawischen Bevölkerungsmehrheit innerhalb des Landes umkehren sollten. Wobei zu bedenken ist, dass die künftige Einwanderung hauptsächlich aus nichtrussischen Nachbarländern kommen wird, die einst Teil der ehemaligen UdSSR waren, und dass einige Minderheiten im Land weit mehr Kinder haben als ethnische Russen.
Putins Entscheidung, in die Ukraine einzumarschieren, ist als Versuch zu verstehen, den Bevölkerungsrückgang in Russland zu stoppen oder gar umzukehren. Zudem manifestiert sich darin sein Kampf gegen das, was er als eine westliche Verschwörung ansieht, nämlich Russland „kinderlos" zu machen.
Ähnlich wie seine rechtsgerichteten Verbündeten in der ganzen Welt zieht es der Kreml vor, die niedrigen Geburtenraten als Folge des westlichen Feminismus und der LGBTQ-freundlichen Politik darzustellen. In der politischen Vorstellungswelt Moskaus befindet sich die westliche Zivilisation in einem unaufhaltsamen Niedergang, da sie ihre Energie und Vitalität verloren hat. Entsprechend sehe Europa inzwischen wie ein von Migranten geführtes Altersheim aus. Eben darum wolle der Westen zwecks Machterhalt jüngere und energetischere Zivilisationen umgestalten, indem er deren demografisches Potenzial bremst. Putin und seine Eliten halten dem in unverschämter Selbstgefälligkeit agierenden Westen und insbesondere den USA vor, der „historisch gewachsenen Zivilisation" Russlands ein liberales kulturelles und politisches Modell aufgezwungen zu haben.
Apokalyptischer Mimetismus
Im Gegensatz zu einigen seiner politischen Verbündeten im Westen hat Putin nie den französischen Philosophen René Girard zitiert, aber er würde diesem zustimmen, dass die Welt von apokalyptischem Mimetismus (Nachahmungen) bedroht sei. Russische Frauen möchten keine Kinder, nicht weil sie dem russischen Staat misstrauen oder weil sie nach Selbstverwirklichung streben, sondern weil sie westliches Verhalten nachahmen. So gesehen vermag Russland nur zu überleben, wenn es den mimetischen Kreislauf durchbricht.
Danach ist der Bevölkerungsrückgang in Russland kein natürlicher Prozess, sondern das Ergebnis eines vom Westen initiierten Krieges, wobei die vom Westen propagierten neuen Geschlechternormen als kulturelle Vernichtungswaffen eingesetzt werden. In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, dass auch andere autoritäre Regime dekadente westliche Einflüsse für den demografischen Niedergang in ihren Ländern verantwortlich gemacht haben. So machen die Mullahs in Iran gemeinhin die „Westvergiftung" für die Veränderungen im Lebensstil verantwortlich, die zu einem drastischen Rückgang der Geburtenrate im Land geführt hätten.
Im 17. und im 18. Jahrhundert führten manche Eingeborenenvölker in Nordamerika „Trauerkriege": Kriege der Trauer und des Bevölkerungsaustauschs. Dabei ging es nicht um Territorien oder um Ruhm. Es handelte sich um Raubzüge zur Entführung von Männern, Frauen und Kindern, um eigene Kriegsverluste zu kompensieren. Wer von den Verschleppten sich der Integration verweigerte, wurde getötet. Wenn diese Kriege völkermörderisch waren, dann im Sinne völkermörderischer Integration.
Inwiefern unterscheidet sich davon Putins Krieg in der Ukraine? Handelt es sich nicht um einen „Trauerkrieg" des 21. Jahrhunderts?
Ausblick: Historische Ereignisse wie Kriege und Massenzuwanderungen beeinflussen stets die Bevölkerungsstruktur. Der Krieg in der Ukraine und die Flüchtlingswellen nach dem 24. Februar 2022 bestätigen zwar diese Regel, allerdings ordnet sich eine dadurch entstehende demographische Delle in einen langfristigen Trend ein. Erwartungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zufolge wird Russlands Bevölkerung bis 2050 auf 136 Mio. sinken. Der prognostizierte Bevölkerungsschwund für Russland ähnelt damit den Trends in Europa.
Obwohl eine weitere mögliche Mobilisierung sowie negative Kriegsentwicklungen die Abwanderung und Anzahl an Kriegstoten potenziell erhöhen könnten, betreffen die Konsequenzen vor allem die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ebenen. Ein weiterer Exodus von qualifizierten Fachleuten aus Russland bedeutet einen weiteren potenziellen Verlust für Russlands Innovations- und Wirtschaftspotential.
Trotz allen bevorstehenden Veränderungen können die Menschen auf einige beruhigende Kontinuitäten zählen. Wie man Wohlstand schafft und die materielle Knappheit besiegt, ist längst bekannt. Diese Formel wird unabhängig davon funktionieren, ob die Bevölkerung wächst oder schrumpft. Das marktbasierte System wird auch in der nächsten Ära bestehen und sich weiterentwickeln.
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